Diese
Brille? Oder vielleicht diese? «Gehen wir jetzt vom Triebtäter weg oder eher
hin?» Jonas Kaufmann grinst beim Kostüm-Feintuning in der Garderobe. Nein,
ein Triebtäter wird sein Don José nicht sein. Ein biederer, braver Mensch
sei das, sagt der Sänger später, nun ohne Brille, «einer mit einem sehr
engen Vorstellungsvermögen». Dieser Don José wird förmlich überrumpelt von
seiner Liebe zu Carmen, die so anders ist als alle seine bisherigen Gefühle,
und er bettelt bis zuletzt um ihre Aufmerksamkeit. Der Mord ist ein
Affektmord, begangen von einem, «der alles richtig machen will und gerade
deshalb alles falsch macht».
Jonas Kaufmann selbst hat in seiner Karriere sehr vieles richtig gemacht.
Mit dem Etikett «Superstar» kann man den 39-jährigen Münchner erst seit
kurzem versehen – seit seine erste CD bei Decca herausgekommen ist. Seither
schwärmen nicht mehr nur die Feuilletons, sondern auch der «Stern» von
Kaufmann («Er ist sexy wie Brad, hat Locken wie Antonio, spielt wie George
und singt wie keiner»). Vorher war Kaufmann ein zunehmend begehrter – und
vom Zürcher Opernhaus schon sehr früh entdeckter – Geheimtipp. Noch vorher
Ensemblemitglied in Saarbrücken. Und ganz am Anfang Mathematikstudent.
Er sei froh, dass es so langsam gegangen sei mit seiner Karriere, sagt
Kaufmann; «wenn man irgendwann mal da oben angekommen ist, muss man auf
viele Erfahrungen zurückschauen können». In Saarbrücken hat er nicht nur
eine Unmenge von Stücken und Aufführungen gesungen, sondern auch gelernt,
Nein zu sagen. Und es hat eine Weile (und einen Lehrerwechsel) gebraucht,
bis er seine Stimme gefunden hatte: nicht den leichten, hellen, «typisch
deutschen» Tenor, den er sich zuerst anzugewöhnen versuchte, sondern eine
fast baritonal gefärbte, sinnliche, bis ins gern ausgereizte Pianissimo
kraftvolle Stimme.
Wie ein Kind im Süssigkeitenladen
Auch den Plattenvertrag hat er nicht bei der ersten Anfrage
unterschrieben: «Wenn man das zu früh tut, muss man so unglaublich dankbar
sein, dass die einen über Nacht zum Star gemacht haben – da fängt man schon
nach ein, zwei Jahren mit Crossoverdingen an, um genug Geld reinzuspülen».
Ausserdem sei der Druck, auf der Bühne die Studioleistung zu wiederholen,
dann unglaublich gross. Bei ihm wars umgekehrt: Die Bühnenkarriere war vor
der CD-Karriere da. Für sein erstes Album hat er sich «wie ein Kind im
Süssigkeitenladen» aus hundert Ideen schliesslich jene «Romantic Arias»
ausgesucht, die ihm passend schienen für eine möglichst bunte Übersicht
«über all das, was ich in den letzten Jahren so getrieben habe».
Über fast alles. Die meisten Arien auf der CD, von «Che gelida manina»
bis «E lucean le stelle», sind Opern-Hits, während Kaufmann auf der Bühne
immer wieder auch rares Repertoire singt. In Zürich waren Humperdincks
«Königskinder» die letzte Ausgrabung, ein Stück, an das Kaufmann «vollkommen
unbelastet» herangehen konnte - was er so überzeugend tat, dass man selbst
den kuriosen Text vergessen konnte. Bei der «Carmen» ist das nun wieder
anders: «Da gibt es schon unendlich viele Interpretationen, und man muss
versuchen, den Kopf freizukriegen und das zu machen, was in einer bestimmten
Konstellation interessant ist». Was umso reizvoller sei, wenn die
Konstellation so ist wie bei dieser Produktion: Vesselina Kasarova singt die
Carmen (und man kann davon ausgehen, dass sie dem Klischee der
hüfteschwingenden Verführerin nicht entsprechen wird). Franz Welser-Möst
dirigiert seine letzte Produktion als Gene- ralmusikdirektor.
Schauspielhausdirektor Matthias Hartmann inszeniert.
Dass Kaufmann nicht nur als Sänger das Spektrum von furioso bis dolce zu
bedienen weiss, sondern auch als Schauspieler, das zeigte er in bekannten
wie unbekannten Rollen gleichermassen. Am berührendsten war er vielleicht
als Alfredo in der Pariser «Traviata», die Christoph Marthaler inszeniert
hatte. Eine besondere Arbeit sei das gewesen, sagt denn auch Kaufmann: «Mit
Marthaler habe ich Neues an dieser Partie entdeckt, Kleinigkeiten, die aber
ein anderes Licht auf eine bestimmte Szene werfen, und die man dann auch in
einer klassischen Produktion wieder verwenden kann.»
Wie ein Wahrsager
Er wird den Alfredo noch oft singen. Die Mozart-Partien dagegen «fallen
langsam unten raus» – die Stimme passt nicht mehr so recht dazu. Künftig
geht es in Richtung Wagner, in Richtung schwerer Verdi-Partien auch. Viele
neue Rollen will er lernen, «sonst wird es mir rasch langweilig». Kürzlich
kam zum Beispiel der Cavaradossi dazu, den er in der nächsten Saison auch in
Zürich singen wird.
Das Zürcher Opernhaus sei für ihn eine Art «Heimathafen», sagt Jonas
Kaufmann, «ein Ort, wo man jeden kennt und sich zu Hause fühlen kann». Ein
eher kleines Haus auch, in dem er «Grenzpartien» ausprobieren könne, ohne
seine Stimme allzu sehr zu strapazieren. Dass er diesen Heimathafen künftig
seltener ansteuern wird, liegt daran, dass er sich vor attraktiven Angeboten
kaum retten kann, «und da muss man halt Schwerpunkte setzen, man kann seine
Zeit nicht mit der Giesskanne verteilen». Dass auch noch der Schwerpunkt
Familie mit drei Kindern da ist, macht die Planung nicht einfacher.
Derzeit ist die Saison 2013/14 in Vorbereitung, was dem Sänger «schon ein
wenig Angst» macht: «Man versucht wie ein Wahrsager, vorauszusehen, welche
Partie dann richtig sein wird, ob etwas klanglich noch zu schwer oder doch
schon zu leicht sein wird, ob man überhaupt Lust auf eine Rolle haben wird.»
Gleichzeitig sei es auch beruhigend zu wissen, dass es weitergeht.
Beruhigend für ihn – und für die Operngänger.
Foto: Opernhaus Zürich,
Suzanne Schwiertz Jonas Kaufmann singt von der heutigen
Premiere bis zum 11. Juli sechs Aufführungen der «Carmen» im Zürcher
Opernhaus. Übertragung der Premiere auf den Sechse-läutenplatz heute
Samstag, 21 Uhr.
Jonas Kaufmann, Romantic Arias (Decca) |