Wir sind eigentlich nicht in der Oper, sondern im Kino (wohin man
neuerdings ja auch Opernaufführungen von der MET überträgt). Und in
diesem Kino – es hat deutlich nostalgischen Einschlag – sehen wir:
Auch Künstler sind Menschen, wenn es um Frauen geht. Und Mafiosi
ebenso.
Ein Film läuft ab. Regisseur Philipp Stölzl, auf der
Opernbühne genau so daheim wie hinter der Kamera, hat auf die Bühne
des Großen Festspielhauses gleich sechs Kleinbühnen bauen lassen für
„Cavalleria rusticana“. Er macht aus Pietro Mascagnis „öffentlicher“
Oper auf einem sizilianischen Dorfplatz nämlich jenes Kammerspiel,
das es eben auch sein kann: Während wir an dem einen Spielort die
Dorfbewohner aus Altar-Perspektive in der Kirche versammelt sehen
und fromme Oster-Choräle singen hören, lugt Turridu im Unterhemd aus
Lolas Fenster. Gerade hat er mit der jungen Dame ein
Schäferstündchen erlebt. Ein anderes Klein-Bühnenfenster zeigt uns,
wie Turridus Verlobte Santuzza den Untreuen im Stiegenhaus vor Lolas
Wohnungstür abfängt.
Und wieder andere Fenster: Lolas Mann
Alfio, der Fuhrwerker, ist in Wirklichkeit ein Ober-Mafioso und
kassiert in einem Lokal Schutzgeld. Auch Turridus Familie ist
eingebunden ins Paten-Milieu. Die strenge Mama Lucia scheint so
etwas wie die Chefbuchhalterin dieses schwarzen Familienunternehmens
zu sein.
Da wird uns die Story von der sizilianischen
Bauernehre in feinen cineastischen Nostalgie-Bildern neu erzählt,
mit Gesten und Mimik, die in die Stummfilm-Ära zurückreicht. Mit
Anspielungen auf die Filmgeschichte. Und vor allem mit vielen
kleinen Ideen, die der Geschichte Saft geben, ohne dem Libretto
Gewalt anzutun.
Ganz entscheidend: Was da als
Guckkästchen-öffne-Dich-Spiel abläuft, ist ungemein akkurat genau
der Partitur abgehört. Dem Milieu entsprechend hat Philipp Stölzl
sich für das Duell von Turridu und dem gehörnten Ehemann Alfio eine
überraschende, sehr plausible Lösung einfallen lassen. Mehr verraten
wir hier nicht.
Es ist ein Abend der Debütanten: Jonas
Kaufmann singt Turridu und Canio, den Bajazzo. Ist er ein
italienischer Tenor oder nicht? Bei dieser Diskussion sollen sich
die Ideologen und Dogmatiker die Köpfe einschlagen. Jedenfalls ist
Kaufmann ein Sänger, der die Leuchtkraft herbeiholt, wo sie vonnöten
ist, der aber in beiden Rollen nicht vorlaut mit dem Material
protzt. Sein Liebeslied an Lola am Beginn der „Cavalleria“ ist kein
Schmachtfetzen.
Turridu sitzt unter der Dachschräge am
Küchentisch, mit dem Rücken zum Publikum. Ein leises Chanson d’amour
als Hader mit der eigenen Seele… Fast kann er einem leidtun, dass er
mit einer so persönlichkeitsstarken Verlobten vom Zuschnitt der
Ukrainerin Liudmyla Monastyrska geschlagen ist (ein famoser
dramatischer Sopran, auch völlig un-italienisch, aber hoch expressiv
gestaltend).
Der zweite Debütant in Sachen Versimo vom
Zuschnitt Mascagnis und Leoncavallos ist Christian Thielemann.
„Pagliacci“ bringt er leichter zum Leben, weil da mehr ist an
quasi-impressionistischem, Instrumentations-Filigran. „Cavalleria
rusticana“ geht ihm, dem klassischen deutschen Kapellmeister, nicht
so ohne weiteres von der Hand. Da sind mehr Tempodrücker als
notwendig. Insgesamt widerspricht die sizilianische Glut wohl
Thielemanns Wesen, das geographisch eindeutig nördlich vom
Alpenhauptkamm liegt.
Und doch ist alles so klangedel, wie es
der Sächsischen Staatskapelle Dresden wohl ansteht. Aber es ist nur
der Weisheit, nicht der Emotion letzter Schluss. Auffällig ist das
Sänger-Casting. Für die „Cavalleria“ hat man nicht nur mit Liudmyla
Monastyrska als Santuzza das große Sängerlos gezogen. Auch Ambrogio
Maestri, hergerichtet als grobschlächtiger Pate (und umgeben von
„Bodyguards“, die auf dem Platz vor der Kirche gleich mal Turridu
ins Visier nehmen), ist in seiner gefährlichen Leisheit ein mehr als
rollendeckender Sänger. Lola (Annalisa Stroppa) und Mama Lucia
(Stefania Toczyska) ergänzen das Ensemble gediegen.
Dagegen
wirkt, mit Verlaub gesagt, das „Pagliacci“-Sängerteam wie beiläufig
von Sängeragenturen bestückt. Dimitri Platanias ist ein eher
grobschlächtiger Tonio, Maria Agresta (Nedda) passt insofern gut zu
ihrem Liebhaber Silvio (Alessio Arduini), als sie es beide mit der
Intonation weniger genau nehmen. Tansel Akzeybek ist Beppe, der
seine Kavatine stimmlich recht eindimensional anlegt. Im Unterschied
zur Mascagni-Oper, wo Jonas Kaufmann in ein starkes Team eingebunden
wirkt, ist er als Bajazzo ziemlich einsam mit seiner
Überdrüber-Gestaltungskraft. Mag durchaus sein, dass es Christian
Thielemann an einschlägiger Gestaltungskraft in Sachen Italianità
fehlt, um aus diesem heterogenen Nicht-Ensemble ein Ganzes zu
formen.
Die „Pagliacci“-Szene: Da ist nun Farbe drin, viel
Farbe. Und – naturgemäß – öfter als in der Cavalleria öffnen sich
die drei Parterrebühnen zur Totale, wo wir einen ganzen Jahrmarkt
sehen. „Pagliacci“ ist die Oper über das Theater, die Reflexion von
Sein und Schein, vom Eingeholt- und Überrollt-Werden durch die
Wirklichkeit. Da passt es gut, dass Philipp Stölzl zu Beginn das
Bühnenbild fürs Publikum sichtbar herbei rollen, erst zusammensetzen
lässt.
Die Geschichte vom gehörnten Bajazzo , die im
Doppelmord auf offener Bühne endet, erzählt der Regisseur
geradlinig. Überrreich das Arsenal an Chor-Typen. Der Dresdner
Staatsopernchor und der Salzburger Bachchor laufen in Leoncavallos
Oper so recht zur Vollform auf. Das ist vom Besten, was man sich nur
wünschen kann.
Das Auge ist auch im „Bajazzo“ hinlänglich
beschäftigt, und auch da spielt der Regisseur wieder quasi mit der
Filmgeschichte. Kein putziger Folklorismus, aber viel Putziges
trotzdem, das ist der Reiz der Sache. Immer wieder blendet die
Kamera auf die Hauptdarsteller. So, wie wir während Mascagnis
„Intermezzi sinfonico“ Santuzza in Großaufnahme erlebt und gesehen
haben, wie sie hin und her gerissen ist zwischen Zorn, Trauer und
Entsetzen über sich selbst (weil sie Turridu dem Mann der
Nebenbuhlerin verraten hat), so erleben wir Canio, den Bajazzo,
dessen roter, weit über die Wange gezogener Mund den puren Hass auf
seine Frau Nedda nicht übertünchen kann. Mit solch intensiven
Bildern geht Philipp Stölzl virtuos um. Dafür – und natürlich wegen
Jonas Kaufmanns überragender Rollengestaltungen – wird man diesen
Opernabend in Erinnerung behalten.