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Tagesspiegel, 30.12.2023 |
Frederik Hanssen |
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Wagnerkonzert, Berlin Philharmonie, 29.12, 30.12. und 31.12.2023
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Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker: Nur für Erwachsene
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Chefdirigent Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker präsentieren
zum Jahresende diesmal Ausschnitte aus Opern von Richard Wagner – aber wie!
An diesem Abend geht es, pardon, um Sex. Um wilden, ungezügelten Sex,
orgiastische Massenkopulation. Und um Inzest, Zwillingsgeschwisterliebe. Nur
auf dem Papier sieht das Silvesterprogramm der Berliner Philharmoniker
schwergewichtig aus: zweimal hochromantisches Musikdrama, erst eine halbe
Stunde Musik aus „Tannhäuser“, dann der erste Akt aus der „Walküre“ in
konzertanter Form. „Wagner Wucht“, wie das Orchester selbst auf seiner
Website wirbt, statt Häppchen-Klassik mit kurzen, unterhaltsamen Stücken zum
Jahresausklang.
Beim Fernsehsender Arte empfand man diese Werkauswahl
jedenfalls als unangemessen für den Anlass, weshalb kurzerhand die
traditionelle Fernsehübertragung am Nachmittag des 31. Dezember gestrichen
wurde. Und ohne den deutsch-französischen TV-Partner sah sich der RBB
finanziell nicht in der Lage, seine klassikaffinen Zuschauerinnen und
Zuschauer mit dem Event aus der Philharmonie zu versorgen. So kann man den
Bildungsauftrag auch definieren: Was nicht seicht genug ist, fliegt raus.
Das Konzert Noch einmal am 30. und 31. Dezember. Die Konzerte
sind ausverkauft, bis auf einzelne Restkarten. Für den erkrankten Solisten
Georg Zeppenfeld springt an diesen Abenden kurzfristig Tobias Kehrer ein.
Das Konzert am 31. Dezember wird ab 17 Uhr im Radio auf RBB Kultur
übertragen. Es ist außerdem live in der Digital Concert Hall der Berliner
Philharmoniker zu sehen sowie in rund 350 europäischen Kinos, davon zwölf in
Berlin. Die traditionelle TV-Übertragung hat Arte diesmal nicht realisiert.
Dabei wissen versierte Wagnerianer: Was Chefdirigent Kirill Petrenko
da ausgesucht hat, sind die beiden heißesten Hits des Bayreuther Meisters.
Ein Doppelpack unverblümter musikalischer Erotik. Tannhäuser nämlich gibt
sich im Venusberg den Freuden der Sinneslust hin, das „Bacchanal“, das
Wagner direkt auf die Ouvertüre der Oper folgen lässt, erzählt sehr explizit
davon. Und zu Beginn der „Walküre“ treffen Siegmund und Sieglinde
aufeinander, vom Schicksal getrennte Geschwister, die ruckzuck einander
verfallen und sich – horribile dictu – in den finalen Takten
unmissverständlich körperlich vereinigen, um den Haudrauf Siegfried zu
zeugen.
Maximal raffiniert zelebriert Petrenko den tönenden
„Tannhäuser“-Taumel, als anschwellenden Orchestergesang über die volle
Distanz der 28 Aufführungs-Minuten. Nüchtern nimmt er zunächst die
Pilgerchor-Passagen, auch die erste Strophe von Tannhäusers Loblied auf die
Liebesgöttin wirkt noch ein wenig distanziert. Dann aber steigt die
Temperatur unter den fordernden Gesten des Dirigenten immer mehr an, bis zur
hitzigen Leidenschaft.
Richtig grandios aber wird es erst nach dem
Höhepunkt, wenn letzte Schauer den Klangkörper durchpulsen, wohlig
wollüstig, und Petrenko diesen Zustand selig seufzender Erschöpfung so
sinnlich auskostet, dass man als Zuhörer errötet, bis in den letzten Winkel
des Trommelfells.
Auch nach der Pause bleibt das Orchester der
Protagonist. Vida Mikneviciute verströmt sich als Sieglinde mit bebendem,
bronzefarbenem Sopran, Georg Zeppenfeld ist ein eiskalter, hündisch
hinterhältiger Hunding, Jonas Kaufmann singt den Siegmund mit radikaler
Selbstkontrolle, technischer Bravour und vorbildlicher Textverständlichkeit.
Wie es wirklich um das Gefühlsleben der handelnden Personen bestellt
ist, das enthüllt hier das Orchester. Wenn es mit überwältigender Offenheit
von süßer Sehnsucht und erhofften Liebkosungen erzählt, von zärtlichen,
knospenden Gefühlen und brennender Leidenschaft. Hier, an diesem
Donnerstagabend in der restlos ausverkauften Philharmonie, erklingt Musik,
die man auf der Haut spürt. Mehr Zauber kann eine Liveaufführung nicht
entfalten.
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