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Klassik begeistert, 29. Oktober 2023 |
von Jürgen Pathy |
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Verdi: Otello, Wien, Staatsoper, ab 25. Oktober 2023
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Jonas Kaufmann in Hochform: Dieser Otello entführt in die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele
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Jetzt plagt mich ein schlechtes Gewissen. Kurz nachdem ich die zwei
ungarischen Damen auf die andere Seite „vertrieben“ habe, huscht Jonas
Kaufmann durch die Tür. Zum Leidwesen der Fans nicht durchs „Bühnentürl“ am
Herbert-von-Karajan-Platz, wo die Autogrammjäger in Massen warten. Künstler
verlassen in der Regel das Haus dort. Nein, sondern genau vis-à-vis, rund
100 Meter gerade durch die Wiener Staatsoper, ein langer Gang verbindet
diese beiden Ausgänge. Der „Fluchtweg“ sozusagen, den Künstler primär
nutzen, um der Meute zu entkommen. Christian Thielemann sucht meistens hier
das Weite. Jonas Kaufmann an diesem Abend auch.
JONAS KAUFMANN
TRIUMPHIERT ALS ZERRISSENER FELDHERR Dabei hätte sich der polarisierende
Startenor ruhig dem Bad in der Menge stellen können. Als Otello lässt Jonas
Kaufmann seine alte Klasse aufblitzen. Was er beim „Esultate!“ an
Durchschlagskraft vermissen lässt, macht er im Laufe des Abends durch
Ausdruck und Darstellung wett. In den leisen Passagen – davon bietet Verdis
„Otello“ mehr als genug –, gleitet Kaufmanns Stimme geschmeidig durch die
Partitur. Phasenweise glänzt sein baritonal abgedunkelter Tenor, der bei
vielen nur mehr als gaumig und „Voce ingolata“ auf dem Abstellgleis gelandet
ist, wie zu alten Zeiten. Beim Parlando, dem Verdi im Libretto eine große
Bedeutung zugeschrieben hat – fast schon Verismo –, macht ihm sowieso kaum
einer etwas vor. Und zum Ende schmilzt man nur mehr dahin.
Als
Otello, der siegreiche Feldherr, erkennt, welchen fatalen Fehler er begangen
hat, liefert Kaufmann eine psychologische Seelenstudie par excellence. „Der
Verdacht ist schrecklicher als das Vergehen“, heißt es im Libretto, das auf
Shakespeares gleichnamiger Tragödie basiert und Arrigo Boito verfasst hat.
Von diesen Hirngespinsten hochgeschaukelt, dreht sich die Spirale der
Eifersucht immer tiefer. Zwischen Wut, Verzweiflung und Reue wechseln die
Emotionen innerhalb kurzer Zeit. Am Ende erwürgt Otello seine unschuldige
Frau. Tausend Tode stirbt man mit diesem dunklen „Mohr“, der bei Kaufmann
kniend in seiner Verzweiflung versinkt und sich schließlich selbst das Leben
nimmt. „Blackfacing“? – falls es jemanden interessiert: Nein, das hat in
dieser unaufdringlichen Inszenierung keinen Platz. Dafür die Stimmen, die
bei Regisseur Adrian Noble in historischen Kostümen in den Mittelpunkt
rücken.
Dass man bei Jonas Kaufmann noch einmal derart in
Begeisterungsstürme verfallen würde, hatte ich für unmöglich gehalten. Mit
einer Blamage hatte ich gerechnet. Nichts ist daraus geworden. Ganz im
Gegenteil: Als „Sternstunde“ hat sich dieser Abend entpuppt, der auf dem
kammermusikalischen Klangteppich des hinreißenden Staatsopernorchesters
basiert. Getragen von einem butterweichen Dirigat des Briten Alexander Soddy
leuchten da nämlich drei weitere Gestirne strahlend hell auf der Bühne.
GROSSE STIMMEN DURCH DIE BAN Ludovic Tézier, zurzeit Stammgast Nr. 1
im Haus, – „La Traviata“, „Tosca“ und „Otello“, alles innerhalb von wenigen
Wochen. Dass der französische Parade-Bariton das locker schnupft, stellt er
als hinterhältiger Jago klar unter Beweis. Noch nie hat der Franzose mich
bislang derart überzeugt, wie in diesen atemberaubenden Szenen der
Mittelakte, als der Fiesling die Intrige endgültig spinnt. Fast schon wie
bei einem Liederabend, bei dem er seinen ganzen Charme in die Waagschale
wirft. Dass dabei ein fieser Hintergedanke ständig mitschwingt, während er
Otello verführerisch den Floh ins Ohr setzt, ist das Perfide an Téziers
Rollengestaltung.
Otellos Frau, Desdemona, die sich zwischen dieser
Intrige als Gefangene sieht, toppt die beiden fast noch. Rachel
Willis-Sørensen, eine US-Amerikanerin – halleluja, hat diese Dame eine
Stimme. Zum Niederknien, hätte ich den Platz – die Wiener Staatsoper platzt
aus allen Nähten, restlos ausverkauft. Fassungslos rinnt mir fast der
Speichel aus dem Mund, während die dunkelblonde Göttin auf der Bühne ihre
Stimme gleiten lässt. Vom zartesten Piano, schwebend leicht empor in die
tragenden Lagen und hoch hinüber raus. Alles mit einem Timbre, das ergreift.
Keine Spur von übermäßigem Dauervibrato, mit dem einige ihrer Kolleginnen
heutzutage das Hörerlebnis deutlich überstrapazieren. Eine Desdemona, deren
Abendgebet mit Sicherheit an der Himmelspforte klopft. „Knockin’ on Heaven’s
Door“ war gestern. Nichts mehr Guns n’ Roses, seit heute hat sich ein neuer
Ohrwurm eingenistet.
Cassio, der Spielball, setzt dem Fest der
Stimmen noch die Krone auf. Kernig, typisch italienisch, mit viel Schmelz.
Ein leichter, heller Tenor, mit dem der Usbeke Bekhzod Davronov einen
Kontrast zu den anderen Charakteren wirft. Von der Klasse fügt er sich dem
Rest jedoch nahtlos ein.
DIE WIENER STAATSOPER AUSSER RAND UND BAN
Zum Ende bebt das Haus. Nach mehreren Vorhängen: Tollhaus-Stimmung bei
Kaufmann, Tézier und Willis-Sørensen, deren Publikumszuspruch ein wenig mehr
in die Höhe schnellt. Unter schauriger Vorahnung hat Jonas Kaufmann deshalb
gleich den Abgang über den „Fluchtweg“ bevorzugt. Was ich dort treiben
würde, wollten die Damen wissen, bevor ich sie unabsichtlich auf die falsche
Fährte geleitet habe. Verdis Partitur auf die Spur gehen, mit der er ein
Zeichen gesetzt hat.
Keine Ouvertüre mehr, stattdessen bricht ein
Sturm los. Ein neuer italienischer Opernstil, bei dem das Orchester eine
wichtigere Rolle spielt. Kammermusik wie bei Wagners „Walküre“, zu der Verdi
mit beiden Augen schielt. Die Musik nimmt teilweise vorweg, was auf der
Bühne in Zukunft seinen Lauf nimmt. Ob im vierten Akt eine Bassklarinette
zum Einsatz kommt, wollte ich in Erfahrung bringen – zu Verdis Zeiten ein
Synonym für den Tod. In Ruhe auf einen Orchestermusiker treffen. Stattdessen
läuft mir Jonas Kaufmann zwischen die Hände, Autogramm inklusive. Vermutlich
das Einzige nach dieser Vorstellung. Die Damen aus Ungarn mögen mir
verzeihen. „Szörnyen sajnálom“, „Es tut mir schrecklich Leid“. So weit
reichen meine Ungarisch-Kenntnisse noch.
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