Zeit, 21. April 2021
Christine Lemke-Matwey
 
Wagner: Parsifal, Wiener Staatsoper, 18. April 2021 (Stream, Aufzeichnung vom 11. April 2021)
Was ist der Gral? Die Freiheit!
Bestürzend prophetisch: Kirill Serebrennikows Wiener "Parsifal"-Inszenierung

Verlockend wäre es schon, sich minutiös durchs Video dieser Parsifal-Übertragung aus der Wiener Staatsoper zu klicken und dabei schamlos einer Pornografie der schönen Stellen zu huldigen. Bei 1:03:20 etwa, wenn im ersten Aufzug die Bühnenweihfestspielformel aller Bühnenweihfestspielformeln erklingt, Gurnemanz’ verrätseltes, Parsifal zugerufenes "Du siehst, mein Sohn, / zum Raum wird hier die Zeit". Wie pastos schichtet Philippe Jordan am Pult des Staatsopernorchesters hier Motivquader auf Motivquader, wie grell meißelt er das chromatisch Schmerzverzerrte der Partitur heraus – und woran verfängt der eigene Blick gleich wieder? An Parsifal (Jonas Kaufmann), der die Szene im Vordergrund zu halluzinieren scheint, an seinem jungen schauspielerischen Double (Nikolay Sidorenko), dem sie leibhaftig widerfährt, oder an den vielen schweren Jungs, die die Film-Projektionen hoch über der Bühne bevölkern, aus Blechnäpfen löffelnd, durch Gitterfenster starrend oder sich in kratzige Wolldecken wickelnd?

Analog ließen sich solche Fragen kaum beantworten. Erst im Verdämmern des gerade Erlebten, in der Subjektivität der Wahrnehmung, im Bekenntnis zum blinden Fleck auch formt sich ja so etwas wie ein Aufführungsgedächtnis. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wo jedes Detail verifizierbar bleibt, per Knopfdruck oder Klick, da herrscht Amnesie, Geheimnislosigkeit, Entzauberung. Prompt scheut man innerlich jede pornografische Nachbetrachtung und Spurensicherung, auch weil es sich bei Richard Wagners Parsifal um eines der komplexesten, offensten und befrachtetsten Werke der Musiktheatergeschichte handelt. Der rein musikalischen Erinnerung mag digital noch aufgeholfen werden (ja, Jordans Tempi sind sehr pastos, sehr getragen, trotzdem ist er klanglich mehr auf der sortierenden, strukturalistischen Seite zu Hause als auf der narkotischen); vor der Vielschichtigkeit des Szenischen aber kapituliert die Pandemie-erprobte Streaming-Praxis, und das ist bestürzend und prophetisch zugleich.

Der neue Wiener Parsifal spielt recht realistisch im Gefängnis. Wem das im Blick auf alles Kunstreligiöse, Pseudo-Liturgische, das Wagners letzte Oper umwölkt, nicht Metapher genug ist, der denke politisch gern noch etwas konkreter. Lässt Kundry, die einzige Frau im Spiel, phänotypisch nicht an Julia Nawalnaja denken, die Ehefrau des inhaftierten russischen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny? Und ist dieser nicht per se eine Amfortas-Figur, ein gefallener König, der so lange in der Weltwunde rührt, bis sich diese hoffentlich endlich schließt? Schon klar, dass die Wagnerwelt solche Analogien nicht braucht. Ins Auge springen sie trotzdem.

Bei Wagner führt Parsifal, der "reine Tor", zur Erlösung, indem er tut, was die Gralsritter, jene schwankenden, heillos zerlumpten, in Selbstzerstörung begriffenen Gestalten, längst nicht mehr vermögen: Er zeigt Mitleid – und er handelt. In Kirill Serebrennikows Wiener Neuinszenierung ist es Kundrys Liebe, die das vollbringt und den suizidalen Amfortas rettet. So banal? So banal wie leider verworren. Dass Kundry sich im zweiten Akt, in Klingsors Zaubergarten, als Reporterin eines Lifestyle-Magazins entpuppt, die Parsifal Nummer zwei (den jüngeren) zum Fotoshooting drapiert und Klingsor, eine Harvey-Weinstein-Type, schließlich abknallt, riecht arg nach Kolportage. Oder soll so die mediale Verwertung von Wirklichkeit an sich kritisiert werden, jedwedes In-Bilder-, -Töne-, -Worte-Setzen, das journalistische, das kommerzielle, das künstlerische – und damit nicht zuletzt das Machwerk Oper?

Der Schluss jedenfalls hat die Aura eines Scoops. Der Gral, sagt Serebrennikow, ist nichts anderes als die Freiheit. Also fliegen zu Parsifals letztem "Enthüllet den Gral, öffnet den Schrein!", zum Aufrauschen des Erlösungs-Motivs, das das Staatsopernorchester mit sterlingsilberhafter Melancholie intoniert, alle Gefängnistüren und -tore auf. Kundry und Amfortas schleppen sich nach anfänglichem Zögern hinaus ins Offene und mit ihnen alle anderen; selbst der Schwan – bei Serebrennikow ein junger Mithäftling, dem Parsifal im ersten Akt in einer wundersam intimen Filmszene die Kehle durchschneidet, einfach so, weil er es kann – erwacht unter seinen langen, weichen, perfekt gebleachten Wimpern zu neuem Leben. Leere Bühne also zum Finale, nur Parsifal (der ältere) krümmt sich vorn auf den Stufen, das Gesicht in den Händen vergraben. War alles nur Erinnerung, ein Kopfgespräch und wilder Traum?

Musikalisch bewältigt Jonas Kaufmann die wahrlich monströse Titelpartie bewundernswert robust. Wo ihm heldischer Glanz und das nötige Gran Transzendenz fehlen, da bietet er Kraft, Kondition und viel sängerische Intelligenz, bis zum Schluss. Auch Elina Garancas Kundry-Debüt würde vor einem Livepublikum sicher Wellen schlagen, wenngleich ihre Strategie, jedes erotische Gurren stimmlich in Gletscherwasser zu ertränken, nicht wirklich einleuchtet. Ludovic Tézier als Amfortas und Georg Zeppenfeld als Gurnemanz komplettieren eine insgesamt luxuriöse Ensembleleistung (das gilt auch für den Chor).

Frappierend ist, zu welcher darstellerischen Intensität die Regie ihre Protagonisten anstachelt. Das Digitale nämlich hält gleich doppelt Einzug in dieser Aufführung: als der Pandemie geschuldeter, derzeit einziger Verbreitungsweg (in der eine Woche zuvor aufgezeichneten Premiere saß nur eine Handvoll österreichischer Kritiker) – und beim Regieführen. Letzten Juni wurde Kirill Serebrennikow von einem Moskauer Gericht zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Angeblich soll er Staatsgelder veruntreut haben, die Leitung des Gogol Center ist er los, und das Land darf er bis auf Weiteres nicht verlassen. Videos von den Wiener Proben aber, Liveschalten und ein Co-Regisseur haben es ermöglicht, dass er arbeiten kann.

Selbst wenn einige Gesten und manches Augenrollen in der Übertragung nun zu groß ausfallen (wir sind immer noch auf der Bühne!) und man sich als Betrachterin von der Kameraführung öfter bevormundet fühlt, geht Serebrennikows Konzept doch auf. Parsifal als gespaltene, multiple Persönlichkeit, hier der Star-Tenor, da der Nachwuchsschauspieler, hier die Reife, dort die Jugend, hier Innehalten und Retrospektive, da das ungestüme, sprichwörtliche Über-Leichen-Gehen – das sagt nicht nur etwas über Wagner, den ewigen Zeitgenossen der Zukunft, oder die Frontverläufe der Pandemie, sondern auch etwas über das Schicksal, das der Kunst und ihren Künstlern nach der Krise blühen könnte, wenn vermeintlich alles wieder gut ist. Der Weg ins Offene, Freie, er könnte auch bedeuten, die alten Gehäuse des Gesamtkunstwerks für immer zu verlassen. Aber vielleicht packen einen solche Ängste auch nur, wenn man vier Stunden lang als rotäugiges Kaninchen vor dem heimischen Bildschirm hockt und sich vor Sehnsucht nach dem Echten, Analogen verzehrt.



 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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