Online Merker, 02.10.2020
Renate Wagner
 
Verdi: Don Carlos, Wiener Staatsoper, ab 27. September 2020
WIEN / Staatsoper: DON CARLOS (französisch)
 
Was unterscheidet Verdis französischen „Don Carlos“ von seinem italienischen „Don Carlo“? Er ist länger, was nicht unbedingt ein Vorteil sein muss. Er verfügt über eine unnötige Ballettmusik und einen mehr oder minder nötigen 1. Akt als Vorspiel der Liebesgeschichte zwischen Carlos und Elisabeth. Und – er ist, man glaubt es nicht, die Ur-Fassung dieses Werks, das der Ur-Italiener Verdi für Paris geschrieben hat, wobei er aber der vorgesehenen französischen Grand Opera nur mit gelegentlichem Geschmettere huldigte. Sonst hat das Werk entschieden zu wenig Schwung. Wer die italienische Fassung gut kennt (bei Wiener Opernfreunden ist das voraus zu setzen), der wird interessiert hören, wie die Oper durch die andere Sprache und vielfach evident „verbesserte“ Musik ihre Inspiration und ihre Leidenschaft fand, um das zu ergeben, was wir als den wahren „Don Carlo“ empfinden. Italienisch, wie anders.

Aber natürlich hat die Wiener Staatsoper gute Gründe, auch wieder einmal auf die Originalfassung zurück zu greifen. Erstens ist es an sich anspruchsvoll, das weniger Gute statt des Besten zu spielen. Und zweitens besitzt man dafür eine Inszenierung, deren Kult- und Skandalpotential sich als erstaunlich haltbar erwiesen hat, wie der erste Abend der Wiederaufnahme zeigte. Merk’s, man sollte das nicht so wichtig nehmen: Bei der zweiten Vorstellung gab es nach „Ebolis Traum“ nur Beifall (wenn auch eher matt), und wenn jemand protestieren wollte, hörte man es nur kurz und matt, und niemand bestand darauf…

Ist die berühmte Inszenierung von Peter Konwitschny wirklich so gut? An sich ist sie optisch reizlos, spielt vor weißen Wänden, lässt die Kostüme zwischen annähernd Spanien im 16. Jahrhundert und heutigen Anzügen wechseln (Ausstattung: Johannes Leiacker) und bringt immer wieder den Chor als „bedrohliches“ Element ins Geschehen, wobei die zahllosen in die Wände fast unsichtbar eingelassenen Türen helfen, beim Erscheinen und Verschwinden oft eine Art von gespenstischem Effekt zu erreichen.

Es gibt überzeugende Details, etwa dass die Eboli bei König Philipp im Schlafzimmer ist, wenn er nach seiner Frau jammert (was sie nicht eben begeistert), und sie kann auch bleiben, wenn der Großinquisitor kommt, denn der ist bekanntlich blind (sie führt ihn sogar am Stock aus dem Raum, und der Regisseur arbeitet hier nicht sehr elegant auf die Pointe hin – wird der alte Mann was merken oder nicht?). Andererseits ist Peter Konwitschny immer bereit, das Geschehen hinunter zu ziehen, nicht nur, indem Carlos und Posa überdurchschnittlich viel am Boden kriechen müssen, sondern auch, indem er zu Aktionen auffährt, die dieser Welt wirklich nicht angemessen sind: Die Hofschranzen prügeln Carlos und Elisabeth im letzten Akt wie die Hunde – dafür verpasst Kaiser Karl V. seinem Sohn Philipp bei dieser Gelegenheit eine heftige Watschen. Mann o Mann, was Regisseuren alles einfallen darf. (Karl V. war übrigens ein liebevoller Vater, das kann man in Biographien nachlesen.)

Aber solche Kleinigkeiten hätten Konwitschnys Inszenierung nicht so berühmt-berüchtigt gemacht. Dass er im dritten Akt die sinnlose Ballettmusik, die Verdi dem französischen Publikum schuldete (anders ging es eben nicht) zu „Ebolis Traum“ umgedeutet hat, zu dieser halb komischen, aber natürlich auch perfiden „Familienszene“ im heutigen Wohnzimmer mit Blümchen-Tapeten… ich wette, die Prinzessin Eboli wäre in ihrem ganzen Leben nicht auf die Idee gekommen, sich in diesem Ambiente zu finden, mit Waschlappen-Gatten Carlos (mit Aktentasche aus dem Büro kommend) und den gezierten Schwiegereltern, denen man schließlich eine Pizza (Posa’s Pizza, von ihm geliefert) vorsetzt, weil der Braten verbrannt ist. Herabwürdigend? Ja. Aber es stört heutzutage (siehe die zweite Vorstellung) gerade noch ein bisschen. Oder die meisten gar nicht.

Man muss ja direkt froh sein, dass Corona das alberne Live-Autodafé durch den Zuschauerraum erspart, wenngleich das ersatzweise gebotene „Live“-Video (auf viel zu kleiner Leinwand übrigens) auch kein Preis ist. Wenn dann der Rest der Szene auf der Bühne stattfindet und Carlos auf einem Buffet-Tischchen mit irgendeinem langen Messer fuchtelt, während trottelhafte Bodyguards um Philipp herumspringen… Gott, wie spannend kann diese Szene sein. Und wie kaputt kann man sie machen.

Fünf Stunden läuft der Abend in der zähen französischen Fassung, und Bertrand de Billy hat alle Hände voll zu tun, damit die Spannung nicht einschläft. Immerhin, die Sänger helfen, wobei die Hauptverantwortung auf Jonas Kaufmann ruht. Ungeachtet dessen, dass wir Michele Pertusi kennen und schätzen (zuletzt war er Don Pasquale), er wird wohl niemanden in die Oper locken, noch weniger all die Damen und Herren, die neu sind für Wien. Der Tenor muss das Haus füllen (er tut es, alle Vorstellungen hindurch), und er muss außerdem immer wieder aufs Neue beweisen, dass er der Beste ist, wie seine Fans, die Medien und viele Kritiker erklären. Das ist eine ungeheure Belastung – zumal, wenn man (nach sicherlich vielen Proben, so ein langer Abend erarbeitet sich nicht im Nu) am Sonntag die Premiere gesungen hat und am Dienstag einen Liederabend. Wenn man dann am Donnerstag nicht mehr bei allerbester Stimme ist (und vermutlich im letzten Akt hörbar froh, dass es zu Ende geht), ist verständlich.

Zumal Kaufmann darstellerisch so viel zu bieten hat, wie diesem unglückseligen Infanten (der Titelheld ohne Arie) gegeben ist – Verliebtheit in Elisabeth im 1. Akt, dann schon ziemliche seelische Verwirrung, die man Freund Posa anvertraut, echter Zoff mit der Eboli (da wirkt er sehr gequält), Konwitschny-Zwischenspiel als Komiker und knieweicher Ehemann, dann wieder Herausforderer des Vaters, schließlich steht er betroffen an der Leiche des Freundes Posa, darf im letzten Duett seine Elisabeth küssen, wird geprügelt – und von Karl V. gerettet (die Oper ist gnädiger, als es die Realität war): Eine umfangreiche Rolle, Kaufmann weiß immer, was er tut, er zählt nicht zu jenen Titelhelden, die man nicht merkt, weil Philipp und Posa so stark sind. Er holt sich seine Höhen im Forte, findet sie im Piano, singt die Rolle wacker durch, kleinere Verschleifungen rechnen ihm seine Fans nicht an. Es wäre auch wirklich zu viel verlangt – angesichts dessen, was von ihm verlangt und geboten wird.

Gar so eine Entdeckung, wie man nach den Premierenkritiken glauben wolltel, ist der Russe Igor Golovatenko als Posa dann auch wieder nicht. Die Stimme ist schön und kraftvoll, aber er muss wirklich als Langeweiler, mit Brille und immer einem kleinen Buch in der Hand (er bringt es dann auch zum Sterben mit) ziemlich zögerlich herumgehen. Dass er König Philipp leidenschaftlich herausforderte, hätte man nicht gemerkt. Aber die Sterbeszene nützt er, die gelingt gesanglich famos.

Der König selbst, um bei den Herren zu bleiben, hat immerhin als Einspringer den Abend gerettet. Aber Michele Pertusi überzeugt als basso buffo mehr als in der großen dramatischen Rolle, wo man immer wieder das Gefühl hat, dass die Stimme einfach nicht ausreicht. Die große Arie des Philipp hat man kaum je so mezzavoce und so uninteressant gehört, aber vielleicht ist es Konzept, schreibt der Regisseur doch im Programmheft, der König sei ein armes Schwein. Da braucht es dann nicht jene differenzierten Emotionen, die die Meister dieser Rolle in Gang gesetzt haben. Und, nebenbei, vor Roberto Scandiuzzi und seiner dumpfen Stimme fürchtet man sich nicht, und da gab es schon Inquisitoren, die Gänsehaut verursacht haben. Dan Paul Dumitrescu muss Karl V. als „das lustige Mönchlein“ spielen, singt aber sehr ordentlich.

Wunderbar die Damen. Es macht nichts, dass die Stimme von Malin Byström in der Höhe scharf wird und dass Eve-Maud Hubeaux oft tremoloreich unterwegs ist. Die eine ist eine wunderbare, intensive, ja glühende Elisabeth, und die andere eine Eboli von solcher ungewöhnlicher Präsenz, wie man sie selten gehört hat (auch wenn das Schleierlied gar nicht so toll geriet – aber das „Don fatale“ auf Französisch ging unter die Haut). Sie ist übrigens eine der wenigen Damen, die wirklich auf ihre Schönheit schimpfen kann, denn sie hat sie. Auch ein Vergnügen: die glockenhelle Stimme von Virginie Verrez als Thibault. Die Stimme vom Himmel kam als Marilyn Monroe auf die Bühne und sang, Johanna Wallroth machte das gut.

Fünf Stunden sind lang. Bei Wagner ist man es nicht nur gewöhnt, man will es auch. Hier eher nicht. Aber die Sänger haben den Zuschauer immer wieder aufgefangen, wenn er sich dachte, warum dem großen Verdi hier manches so fad gelungen ist.










 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
  www.jkaufmann.info back top