Kurier, 5.8. 2015
 
Beethoven: Fidelio, Salzburger Festspiele, 4. August 2015
 
Gott! Welch Dunkel hier!
 
Kritik von den Salzburger Festspielen: Wenn in Beethovens "Fidelio" alle Gefangene sind.
 
Eine Neuproduktion von Beethovens "Fidelio" geht fast immer schief. Diese hier, von der in Folge die Rede sein wird, ging weniger schief. Salopp formuliert um einiges gerader. Aber dennoch gab es viele Schikanen.

Claus Guth inszenierte Ludwig van Beethovens Freiheitsoper als Gefangenenoper. Bei ihm sind alle hinter Gittern. Freilich nicht konkret, aber eingesperrt in den Mauern ihrer Zwänge. Hinter gesellschaftlichen Zäunen. In den Barrieren des eigenen Selbst. "Gott! Welch Dunkel hier!" – die Anfangsworte des Florestan gelten diesmal für alle. Singsing – einmal völlig anders.

Kein Happyend

Am beeindruckendsten fällt seine Zeichnung des Florestan aus. Er, der jahrelang in den tiefsten Kellern hungern musste, der ständig den Tod vor Augen hatte, dessen ablaufende Zeit hier ganz parsifalesk zum Raum wird, kann nicht auf Knopfdruck zum glücksbeseelten, von allen Fesseln befreiten Operetten-Buffo werden. Nach all den Qualen, die ihm von Pizarro zugefügt wurden, gibt es für Florestan keinen Platz mehr. Schon gar nicht in der Luxuswelt an der Seite von Leonore. Er ist von Angst zerfressen und geht daran zugrunde.

Das erinnert an Nicholas Brody, eine der Hauptfiguren aus der TV-Serie "Homeland". Dieser kommt nach seiner Befreiung aus einem Erdloch der Islamisten in seiner Heimat nicht mehr zurecht (und mutiert selbst zum Terroristen).

Schattenspieler

Auch Don Pizarro, den Oberbösling, stellt Guth mehrdimensional dar. Er hat einen Schattenspieler zur Seite, der seine Abgründe, seinen Sadismus verkörpert. Pizarro leidet unter seiner Situation ebenso wie Florestan.

Rocco, der Kerkermeister, ist diesmal zu einem anerkannten Mitglied des Bürgertums aufgestiegen – und auch voller Zwänge. Für seine Tochter Marzelline ist Besseres vorgesehen als Jaquino, eine Art verklemmter Bilanzbuchhalter.

Und Leonore, die eigentliche Hauptfigur? Ihr, die sich als Mann verkleidet, wird ein dezidiert weibliches Alter Ego gegenüber gestellt. Diese Figur stellt mit Gebärdensprache dar, was gerade gesungen wird – und auch, was es sonst an Dialogen gäbe. Denn bei diesem "Fidelio" sind sämtliche Zwischentexte gestrichen. Stattdessen hört man zwischen den einzelnen Musik-Nummern vom Band eingespielte Sphärenklänge, welche die Emotionen, die Situationen, die Stimmung widerspiegeln sollen: elektronisches Gewummer und Gehechel.

Dass Leonores Schatten (Nadia Kichler) immer wieder von der Musik oder der Geschichte ablenkt, nervt oft schrecklich. Aber der Zugang im visuell grandiosen schwarz-weißen Bühnenbild mit bedrohlichem Kubus (Christian Schmidt) ist faszinierend: Keine banalen Zwischentexte, ganz im Sinn von Wittgensteins "Tractatus" ("Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen").

Mehr als Sprache

Die Dame mit Gebärdensprache wird mehr und mehr zu einer Art Dirigent auf der Bühne, der ja auch nur mit Zeichen und Bewegung agieren kann. Musik ist viel mehr als Sprache – das wird in dieser Neuproduktion ganz klar.

Das Problem ist nur: Vieles bleibt im Ansatz stecken, dieser "Fidelio" wirkt enorm statisch, dramaturgisch nicht überzeugend. Claus Guth ist einerseits zu radikal – indem er so gut wie alle Beethoven-Klischees wegräumt. Andererseits zu wenig radikal – weil er nicht genug ausformuliert. Aber vielleicht soll ja hier jeder seinen eigenen "Fidelio" formen, was bei einem derart bekannten Werk durchaus legitim ist.

Exzellent ist die Art und Weise, wie Guth die Auftritte und Abgänge gestaltet, nämlich unsichtbar, hinter dem Kubus, aus dem Nichts. Auch die Massenszenen (sehr gut der Staatsopernchor) gelingen beeindruckend und geradezu filmisch.

Jedenfalls ist diese Interpretation um Klassen intensiver als die Osterfestspiel-Produktion 2003 von Simon Rattle/Nikolaus Lehnhoff, bei der die Dialoge ebenfalls gestrichen wurden. Dennoch gab es am Ende viele Buhs für Guths Psychodrama.

Vollendeter Klang

Phänomenal ist die musikalische Gestaltung durch Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker, die erstmals bei diesen Festspielen den philharmonischen Opern-Ansprüchen gerecht wurden (was bei "Le nozze di Figaro" nicht der Fall war). Welser-Mösts Lesart ist hochdramatisch, aber gleichzeitig sensibel, die Musikerinnen und Musiker spielen klangvollendet, aber dramaturgisch ausgefeilt, vor allem (aber nicht nur) die Holz- und Blechbläser sind eine reine Freude, allein die Gestaltung der Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 war eine Meisterleistung.

Wenn man Einwände äußern darf, dann höchstens gegen einige allzu langsame, zelebrierende Tempi, etwa bei der Leonoren-Arie "Abscheulicher", bei der Adrianne Pieczonka vor nicht geringe Probleme gestellt wurde. Wie jedoch beispielsweise das Quartett im ersten Aufzug musiziert wurde, klingt lange noch nach.

Gute Besetzung

Das Sängerensemble ist gut, aber nicht so hochkarätig, wie es sein könnte. Jonas Kaufmann ist ein exzellenter Florestan, der den Gefangenen auch fabelhaft spielt: zitternd, zerbrechlich, am Ende zerbrochen. Stimmlich berührt er mit seinem traumhaften Timbre und seiner präzisen Höhe. Schon seinen Anfangston hält er so lange wie sonst die "Wälse"-Rufe in der "Walküre".

Adrianne Pieczonka ist als Leonore in den lyrischen Passagen bedeutend besser als in den dramatischen und insgesamt eine solide Besetzung. Tomasz Konieczny, über den es immer heißt, er sei mehr Alberich als Wotan, ist diesfalls mehr Wotan als gefährlicher Pizarro, unterm Strich aber ein kraftvoller, stimmlich ausdrucksstarker Bösewicht. Olga Bezsmertna (Marzelline) und Norbert Ernst (Jaquino) singen ihre lyrischen Partien sehr fein, Hans-Peter König den Rocco erstklassig. Sebastian Holecek orgelt den Minister, der szenisch zur Karikatur wird.

Ein aufregender Opernabend, der zur differenzierten Betrachtung animiert.


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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