Salzburger Nachrichten, 05.08.2015
Von Karl Harb
 
Beethoven: Fidelio, Salzburger Festspiele, 4. August 2015
 
"Fidelio": Schatten werden Zeichen der Verlorenen
 
Beethovens "Fidelio" ist ein unmögliches Stück Musiktheater. Im Großen Festspielhaus wird daraus ein herausforderndes Experiment.
 
Wie kann man so etwas erzählen? Eine Frau tauscht das Geschlecht, schlüpft in Männerkleider und täuscht damit eine ganze kleinbürgerliche Familie. Die Tochter verliebt sich in das Mannsbild, obwohl sie einem anderen versprochen ist. Die Frau im Manne aber hat nur eines im Sinn: sich so dienstbar zu machen im Gefängnissystem eines schurkischen Willkürstaates, dass sie endlich ihren inhaftierten Mann findet, der aus politischen Gründen wohl in den allertiefsten Verliesen schmachten muss. Wie das - Intrige, Liebe, Politik, getäuschte Hoffnung, Befreiung - zeigen, hier und heute?

Dazu wechselt die Musik in nur knapp zwei Stunden vom unverbindlichen, vermeintlich leicht-lockeren Singspielton unvermittelt ins Hochdramatische von komplexen Ensembles und Arien, die eigentlich hochdifferenzierte Charakterbilder sind, und von dort in einen Befreiungsgestus, der gar nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. Und das alles ohne wirklich stringenten dramaturgischen Faden, Station für Station in neue, immer extremere Zustände führend.

Beethovens Partitur des "Fidelio", den er sich über gut zehn Jahre förmlich abrang durch verschiedene Werkstadien, bildet ein leidenschaftliches Musikgedankengebäude ab. Sie lässt indessen nicht die Hand eines genuinen Musikdramatikers erkennen. Ungeachtet einer geschlossenen Handlungslogik reiht sie Stück an Stück und verbindet diese mehr schlecht als recht mit holprigen Dialogen, die dann doch so etwas wie einen Handlungsfaden knüpfen sollen.

Fluch und Segen zugleich

Regisseur Claus Guth ist ein kluger Kopf, und das Werk eines so offensiven Musikdenkers wie Beethoven müsste ihm eigentlich entgegenkommen. Gleichwohl hat er bis jetzt einen Bogen um das schwierige, unmögliche Werk gemacht. Jetzt hat er es für die Salzburger Festspiele an- und dafür sein seit langem approbiertes szenisches Besteck ausgepackt. Das ist freilich Fluch und Segen zugleich.

Man sieht also, ausgedacht von Ausstatter Christian Schmidt, auf der Bühne des Großen Festspielhauses ein hohes, hermetisches, klaustrophobisch zugespitztes weißes Zimmer mit klassizistischen Stuckelementen, einen Parkettboden, der sich für das "Gefängnis" etwas aufstellen lässt und - als einziges mobiles Element - einen schwarzen Quader, der sich hebt und senkt.

Dieses Element wirft wie auch die Figuren seine bedrohlichen klobigen Schatten an die Wände: überlebensgroß, normal oder gar nicht, je nach Licht, das Olaf Freese zu einem wesentlichen Faktor der Inszenierung macht. Der Quader schaufelt aber auch stumm und starr Figuren herein und heraus. Für ihre Auftritte beginnen sie auf seltsame Art unwirklich zu leben.

Der Regisseur und seine Dramaturgin Ronny Dietrich haben konsequent die Dialoge gestrichen. Ersetzt werden sie durch eine Geräuschkulisse (Torsten Ottersberg), die Donner und Wind, Ächzen und Atmen ausstößt. Das ist zwar nicht förderlich für eine allfällige Erklärung der Handlung, schafft aber nicht uninteressante akustische Assoziationsflächen. Hier wird kein Zusammenhang behauptet - der in der zerrissenen Dramaturgie von Beethovens einziger Oper ohnedies nicht leicht herzustellen ist. Hier werden Solitäre wie Inseln herausgeleuchtet. Jedes Element hat seinen eigenen Aggregatzustand.

Abstrakte Figuren, wie für ein Experiment

Denn Claus Guth inszeniert dezidiert anti-psychologisch, anti-realistisch, anti-illustrativ. Er schafft nur abstrakte Figuren wie für ein Experiment. Ob das wirklich genügen, ob das letztlich Beethovens Oper verständlich machen kann, bleibe dahingestellt. In ihrer Konsequenz freilich zeigt die Regie intelligent, bedachtsam, präzise lauter Einsame, Verlorene, in sich Gefangene, keine Figuren, mit denen man mitleiden oder mitfühlen könnte, sondern seltsam abstrakte, wie paralysiert wirkende Wesen.

Das wiederum schafft einen kühlen, minimalistischen Reflexionsraum, und wir sind dort, wo Claus Guth in seinen vielen Arbeiten gerne immer wieder hinkommt: in der pathologisch-psychologischen Tiefenforschung. Der Regisseur seziert, bis in den Chor der Gefangenen, die wie weiße Lemuren erscheinen und verschwinden, kalte Seelen, und sie scheinen je kälter, fremder, eingekapselter zu werden, je heißer die Musik glüht. Dafür setzte es am Ende wilde Proteste des Premierenpublikums.

Das klangliche Glühen freilich, das ist bei den Wiener Philharmonikern und ihrem Dirigenten Franz Welser-Möst in den allerbesten Händen. Zum Kulminationspunkt wird die 3. Leonoren-Ouverture, hier nicht, wie oft, retardierendes Moment, um hinter der Bühne derweilen einen Umbau zu schaffen, sondern essenzieller Bestandteil der Klangdramaturgie. Sie ist wortlose Zusammenfassung des Dramas und Vision in einem, aus subtil tastendem Anfang zu rasendem Furor gesteigert, straff und scharf akzentuiert und dennoch mit unglaublich detailreichen Klangfinessen ausgestattet, ohne ein Gramm Fett noch gar mit Pathos aufgeladen.

Das zeichnet überhaupt die gesamte Gangart dieser bemerkenswerten "Fidelio"-Interpretation aus: Nummer für Nummer erhält eigene, individuelle Kontur, ungeschönt wird Beethovens Radikalismus ausgestellt, schon im "Singspiel"-Gestus der ersten Szenen, die so schwer ins folgende Geschehen zu integrieren sind, wirkt der Duktus gewichtiger als gewohnt, dadurch auch bedeutungsvoller, ohne deswegen den leichte(re)n Ton aufgeben zu müssen. Man hatte den Eindruck, Welser-Mösts gründliche Exegese des Musiktextes reinige und befreie das schwierige Stück. So verhilft er ihm zu neuer Kenntlichkeit. Vielleicht wird aber gerade in dieser kompromisslosen und doch leidenschaftlichen Haltung genau das Äquivalent geschaffen, das die Inszenierung zur Legitimation braucht. Dann wäre dieser "Fidelio" wenigstens auf dem Weg zu einer exemplarischen Deutung.

Der Star: Kaufmann

Letztlich jedoch fehlen dafür vor allem die nötigen sängerischen Kaliber - bis auf einen, dessentwegen sich das Publikum wohl um die Karten riss: der Tenorstar Jonas Kaufmann. Adrianne Pieczonka ist eine ordentliche, aber kaum außerordentliche Leonore, begleitet von einem Alter ego, das in Gebärdensprache ihre Gedanken spiegelbildlich in Gesten übersetzt (Nadia Kichler), Tomasz Konieczny ein kaum je bedrohlicher Don Pizarro (mit schwarzem Tänzer-Double: Paul Lorenger; auch dieses zusätzliche Personal kennt man aus dem Figurenarsenal des Regisseurs schon zur Genüge). Hans-Peter König gibt einen vor Bonhomie strotzenden, gravitätischen Rocco in behaglichem Bürger-Outfit mit elegantem Spazierstock. Olga Bezsmertna und Norbert Ernst sind ein perfekt gecastetes, geducktes Kleinbürgerpaar, Sebastian Holecek macht den Minister zum behäbigen Deus ex machina-Beamten. Allesamt haben sie die Stimmen, die in mittleren und größeren Häusern angemessen klingen würden, im Riesenhaus in Salzburg aber (und auf so leerer Bühne) seltsam konturlos, nachgerade entindividualisiert erscheinen.

Jonas Kaufmann weiß schon hinter dem schwarzen Quader mit seinem dynamisch schwellenden "Gott, welch Dunkel hier" seine eigene Klasse zu etablieren. Dass die Stimme dabei von viriler Gesundheit strotzt, wo doch ein schwer Traumatisierter darzustellen ist, der später mit seinem neuen Leben in Freiheit nicht mehr zurecht kommt: geschenkt. Nur die exzellente Beherrschung der Mittel, so zeigt dieser Florestan, lang erprobt in der Rolle, erlaubt differenzierte Gestaltung - auch wenn Jonas Kaufmann damit Claus Guths Konzept auf paradoxe Art unterläuft: Er ist ein starker, ein echter Charakter.

Wie auch immer: Dieser "Fidelio" liefert Denkstoff. Und das will im sonst mit Ausnahme der "Eroberung von Mexico" so seichten Novitätengeplätscher dieses Sommers schon einmal etwas heißen.




 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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