Die Welt, 10.12.15
Manuel Brug
 
Berlioz: La damnation de Faust, Paris, Opera Bastille, 8. Dezember 2015
Das Liebesduett wird von trägen Walen begleitet
 
In Deutschland wird er politisch verdammt, die Franzosen stören sich an seiner Ästhetik: Alvis Hermanis inszeniert "La Damnation de Faust" in Paris

Unmutsäußerungen heulen bereits zur Pause durch den Saal. Im zweiten Teil muss der exzellente Dirigent Philippe Jordan einen Plärrer zum Schweigen bringen. Und am Ende blökt der Buhsturm mit voller Skandalkraft los.

Er gilt in der schwer bewachten, komplett die Taschen durchleuchtenden Pariser Bastille-Oper freilich nicht den dezidierten Flüchtlingsansichten des Alvis Hermanis, sondern seiner Regie für eine nationale Inkunabel, Hector Berlioz' Bühnenzwitter "La Damnation de Faust". In einem mal auffällig leeren (Flughafen, Metro), dann üblich überfüllten (Brasserie Bofinger) Post-Attentat-Paris ist man nach dem politischen Rechtsrutsch mit anderem beschäftigt als mit den Äußerungen eines lettischen Theatermannes, die so extrem sind wie die europäische Ostlage seiner Heimat. Man hat sie schlicht nicht zu Kenntnis genommen, während in Deutschland weiterhin der Shitstorm tobt, und etwa Hamburgs Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard zum totalen Hermanis-Boykott aufruft, weil der Wirrgeist nicht in ihr simpel links gestricktes Gutmenschenweltbild passt.

Die Pariser Operndirektion gibt sich erleichtert, dass sie nicht noch an dieser Front löschen muss, sie hat genug zu tun, erregte Gemüter nach der Premiere zu befrieden. Die Mission des neuen Intendanten Stéphane Lissner ist es, diese nationale Institution zukunftsfähig zu machen. Das lassen ihn die konservativen, sich schon von Gerard Mortiers Postmodernismen dauervergewaltigt fühlenden Melomanen von der Seine bei abseitigen Werken wie Schönbergs "Moses und Aron" unwidersprochen tun, nicht aber, wenn er scheinbar eine heilige Repertoirekuh schlachtet: der Ungarische Marsch aus der "Damnation" wurde nicht zuletzt legendär durch das Dirigat von Louis de Funès in der Nazi-Klamotte "Die große Sause" – bis "Willkommen bei den Sch'tis" Frankreichs erfolgreichstem Film.

Was hat Alvis Hermanis, den man jenseits des Rheins, wie osteuropäische Regisseure in der Kantor-, Grotowski, Ljubimow-Tradition, einem Guru gleich verehrt, in seiner dortigen Opernpremiere falsch gemacht? Für deutsche Augen hat er eigentlich viel zu wenig getan: Sein Personal steht frontal an der Rampe, singt brav Arien, der formidable und in diesem Werk so bedeutungsvolle Chor bewegungslos dahinter.

Hermanis' Interpretation scheint eine vornehmlich optische, nicht mal sonderlich originelle Behauptung zu sein: Faust ist ein Zukunftsforscher, der sich, angeleitet von Mephisto im weißen Kittel, mit 99 anderen im Jahr 2025 auf den Mars schießen lässt, um von der übervölkerten Erde aus den Weltraum zu kolonialisieren.

So erhofft es sich auch Stephen Hawking, das an den Rollstuhl gefesselte Denkgenie, das hier in Gestalt des als Edelstatisten gebrauchten Pina-Bausch-Stars Dominique Mercy mit verzerrten Gliedmaßen über die Szene gleitet.

Auf nüchtern mobile Stahlgestelle (Hermanis ist sein eigener Bühnenbildner) werden Bilder von Tautropfen auf Grashalmen geworfen, die Leipziger Studenten sind von zuckenden Tänzern gedoubelte Laborratten. Ein Weltraummobil fährt durch rote Geröllwüsten, irrlichternde Sylphen erscheinen als Ballerinen. Das Liebesduett wird von trägen Walen begleitet, zur großen Gretchen-Erinnerungsarie "D'amour, l'ardante flamme" kopulieren Schnecken; Spermien wedeln, ein Embryo atmet; in der Apotheose himmlischer Geister schweben Quallen.

Das ergibt nur starre Bilder, das problematische Stück wirkt so noch immobiler. Also delektiert man sich am Singen. Angeleitet vom die Extreme der buntscheckigen Partitur kulinarisch auslotenden Philippe Jordan wird besonders Jonas Kaufmann gefeiert. Sein Faust ist nicht mehr der tenorsüße Hänfling wie vor 13 Jahren in Brüssel, er reifte heran zum dunkelglühend Suchenden, der, wenngleich szenisch vernachlässigt, vokal ideal alle Nuancen der komplexen Partie auslotet.

In der De-Luxe-Besetzung tönt Bryn Terfels Mephistopheles teuflisch bariton-gut, Dämonie darf er nicht ausspielen. Die Marguerite der Sophie Koch bleibt da blass, ihr Mezzo wirkt matt. Leidenschaft verweigert ihr nicht nur der später bös dafür gezüchtigte Alvis Hermanis. Für die Franzosen gibt er den Anti-Romantiker, in Deutschland wird er als Spinner verdammt: Facetten einer offenbar durch Zeitumstände gespaltenen Persönlichkeit.





 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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