Augsburger Allgemeine, 17.11.2014
Rüdiger Heinze
 
Puccini: Manon Lescaut, Bayerische Staatsoper, München, 15.11.2014
 
Sie lieben und sterben
 
Anna Netrebko hat das Weite gesucht. Nun triumphiert Jonas Kaufmann neben Kristine Opolais in Puccinis "Manon Lescaut". Der Haudegen Neuenfels inszenierte.
 
Als Anna Netrebko vor zwei Wochen „Niet" gesagt hatte und „Paka" gegenüber der Bayerischen Staatsoper, als sie also abgesprungen war vom rollenden Puccini-Zug „Manon Lescaut" — oder soll man formulieren: nicht das Häftlings- und Strafschiff nach Amerika besteigen wollte? —, da war ihr der Beifall aus bestimmtem Opernkreis so sicher wie das Kirchen-Amen.

Mancher meldete sich zu Wort und stilisierte sie zur Heldin in einer Opernwelt, die sich quasi seit langem schon gegen die Kunst verschworen hat. Eine Opernwelt voller Regietheater, Intendanten, die das Regietheater befördern, Kunstminister, die all das einleiten, und Sängerkollegen der heiligen Anna, die nicht aufmucken und alles mitmachen. Ist die Netrebko die Gute —und Kristine Opolais jetzt die Böse, weil sie einsprang und das Strafschiff nach Amerika bestieg?

Da vor 14 Tagen nicht so recht herauszukriegen war, was letztlich konkret den Stein des Anstoßes für die selbstverständlich einvernehmliche Trennung zwischen Staatsoper und Netrebko ausgemacht hatte (obwohl klar wurde, dass die beabsichtigte Inszenierung von Hans Neuenfels irgendwie die Hauptrolle spielte), konnte man nun doppelt gespannt sein auf die Premiere.

Die Fragen lauteten: Was hat der alte Haudegen Neuenfels, von dem es überragende Regietaten gibt, der sich obsessiv aber auch schon des öfteren verrannt hat, diesmal wieder den Protagonisten zugemutet? Welche fürchterlichen Provokationen hat er nun wieder ausgeheckt?

Zum mächtigen Schlussapplaus aber waren diesen Fragen noch immer nicht beantwortet. Sollte es also womöglich die stürmische, intensive Liebesszene (selbstverständlich in Kostüm) von Des Grieux/Jonas Kaufmann und Manon/Opolais gewesen sein, die Netrebko das Weite suchen ließ? Das kann ja wohl nicht sein. Liebesszenen gehören zum Einmaleins von Sopranen.

Nein, da war überhaupt nichts Anstößiges in dieser Inszenierung von Hans Neuenfels — bis auf die Tatsache, dass sie gewiss nicht zu seinen besten zählt. Man kann sagen: mehr Mittelmaß als Inspiration. Es muss bei den Proben wohl so gewesen sein: Eine Löwin der Oper stieß auf einen Löwen der Oper —und beide beharrten auf ihr Wissen, auf ihr Können, auf ihr Verdienst.

Einem aber haben alle Umstände dieser Neuproduktion nichts anhaben können: Jonas Kaufmann. Er triumphierte einmal mehr — diesmal sozusagen als gebrochener Herzensbrecher. Seine bedingungslose Liebe, die ja schon an Hörigkeit grenzt, übersetzte er mit Tenor-Kern, viel Brustregister und Stütze in eine unerhörte, gleichsam unsterbliche Emphase. Da geriet das Auditorium natürlich außer sich.

Es huldigte auch Kristine Opolais stark, die jedoch erst manche eher neutrale, eher farblose Passage überwinden musste, bis ihr im dritten und vierten Akt bereuende, warme, strahlende Gesangsbögen gelangen. (Kaufmann und Opolais sind seit einer Londoner „Manon" im Übrigen ein eingespieltes Team.) Hervorragend besetzt: Lescaut mit Markus Eiche, Geronte mit Roland Bracht sowie der Tanzmeister mit einem diesmal üppig behaarten Ulrich Reß. Alain Altinoglu beleuchtete zusammen mit dem Bayerischen Staatsorchester ausgesprochen produktiv die originären, ja fast impressionistisch-kühnen Instrumentationswirkungen Puccinis; doch diese sinnlich anregende Detailarbeit ging ein wenig auf Kosten des Großen und Ganzen und Überwölbenden. Es gilt aber: Musikalisch hat der Abend mehr Meriten als inszenatorisch.

Nicht weil Neuenfels kluge Gedanken zum Grundkonflikt des Werks (Liebe oder Luxus) vermissen ließ, sondern weil diese klugen Gedanken in der betont distanzierten, erheblich stilisierten, radikal anti-illusionistischen Ausstattung (Bühne: Stefan Mayer/Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer) praktisch untergehen. Zu tun bekommt es der Zuschauer mit einer kargen, leuchtröhrenumrandeten Black Box, die früh schon den Weg von Manon und Des Grieux in ein schwarzes Todes-Nichts andeutet. Die Handlung: letztlich ort- und zeitlos. Der Mensch in der Menge bleibt entindividualisierte Ware, Verfügungsmasse, Einsatztruppe.

Der Chor in grauen Ganzkörperanzügen weckt durchaus Assoziationen an die Bayreuther „Lohengrin"-Rattenpopulation von Neuenfels. Dazu kommen — hier moderne — Bogenschützen, wie sie das Libretto mehrfach erwähnt.

Für München hat Neuenfels zudem Texte formuliert, die eingeblendet werden zwischen die Akte, um die Stationen des Dramas inhaltlich zu verbinden. Sie setzen ein in Ironie, münden aber letztlich in ernsthaften Selbstbetrachtungen von Manon/Des Grieux. Da ist es schon zu spät für eine glückliche gemeinsame Zukunft. Theatralisch extrem jedenfalls das 20-minütige Finale: Kaufmann/Opolais allein auf weiter Flur, allein im schwarzen Kubus. Dass sie, zurückgeworfen auf Stimme und Körper, geschätzte 150 Quadratmeter präsent füllen können im Todeskampf, macht ihre Größe als Bühnenkünstler aus.

Da könnte der Zuschauer schon vergessen haben, was er zuvor sah. Da könnte er sogar das Nichts drum rum vergessen.
















 
 
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