Der Standard, 19.03.2012
Daniel Ender
 
Konzert, Wien, 18. März 2012
 
Gewaltige Sogkraft, klare Struktur
 
Das City of Birmingham Symphony Orchestra und Andrís Nelsons im Musikverein
 
Wien - Jean Sibelius: Noch immer haftet seinen Symphonien hierzulande ein wenig der Geruch der Oberflächlichkeit an, des lose Aneinandergefügten statt des zwingend Geformten. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass der Vergleich mit deutsch-österreichischer Symphonik nicht stichhaltig ist, weil der finnische Komponist eine ebenso spannungsgeladene, nur eben andersgeartete Formensprache schuf - im Musikverein wäre er nun geliefert worden

Da pulsierte seine zweite Symphonie unter den Händen von Andrís Nelsons, der sich dafür mit dem City of Birmingham einen kongenialen Partner herangebildet hat, seit er 2008 zu dessen Musikdirektor bestellt wurde. Es mag vielleicht Orchester geben, die beim punktgenauen Einsetzen noch verlässlicher sind, doch die gewaltige Sogkraft, die gerade bei Sibelius entstand, ließe sich kaum noch übertrumpfen.

Nelsons schuf genau dadurch nie abreißende Spannungsbögen, dass er sie im Detail mit ebenso viel Sorgfalt wie Freiheit modellierte, die glänzenden Bläser fein austarierte und somit für denkbar klare Strukturen sorgte.

Zuvor hatte er Benjamin Brittens Four Sea Interludes aus der Oper Peter Grimes mit ebensolcher Sorgfalt zu weit mehr als atmosphärischen Stimmungsbildern gemacht und dabei das unterschwellig Drohende an ihnen mit Präzision herausgestellt. Und dazwischen musizierten Dirigent und Orchester Beethovens viertes Klavierkonzert mit Rudolf Buchbinder als hochinspiriertem Solisten ebenso pointiert und schlackenlos.

Ein ähnlich gegensätzliches, doch beziehungsvolles Programm dann am zweiten Abend, an dem zwei "Spätromantiker" und zwei "Impressionisten" einander gegenüberstellt wurden. Das Dirigat Nelsons' machte hier klar, wie falsch solche Etikettierungen sind. Claude Debussys La Mer erklang da nicht bloß als Landschaftsidylle oder als "symphonische Skizzen", wie der Untertitel bescheiden vermerkt, sondern als Werk eines mit sich ringenden Wagnerianers, der Debussy zunächst war, der freilich auch bereits Alternativen gefunden hatte.

Doch hinsichtlich Verkettung musikalischer Gedanken und Schlüssigkeit von Steigerungsbögen zeigte der Dirigent das Stück in ähnlich strukturbetontem und daher ziemlich ungewohntem Licht - ebenso wie Maurice Ravels zweite Daphne et Chloé-Suite, die den wuchtig-brillanten Schlusspunkt des Gastspiels bildete.

Dazwischen hatte wiederum ein Solist seinen Auftritt: Der gefeierte, in Stimmvolumen und Strahlkraft allerdings limitierte Jonas Kaufmann gab zunächst Gustav Mahlers Kindertotenlieder mit Wortdeutlichkeit und intimer Versenkung, während Nelsons das Orchester zu unbarmherzig kahlen Farben anhielt. Während fünf orchestrierter Lieder von Richard Strauss, bei denen das Orchester vielleicht doch etwas dick auftrug, fand der Tenor immerhin zu entspannter Wärme. Ob man allerdings das Geigensolo im Lied Morgen wirklich derart inbrünstig vibrieren muss, sei dahingestellt.






 
 
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