Opernwelt, Januar 2013
Frederick Hanssen
Wagner: Lohengrin, Teatro alla Scala, 7. Dezember 2012
 
FRÜHLINGSERWACHEN 
Daniel Barenboim und Claus Guth eröffnen die Saison an der Mailänder Scala mit Lohengrin
 
Elsa gibt es zweimal, Gottfried dreimal. Oder womöglich gar viermal? Erträumt sich die junge Herzogin von Brabant ihren Bruder ebenso wie ihren Ritter - als Retter aus der Erziehungshölle? Claus Guth stellt in seinem Lohengrin an der Mailänder Scala Wagners Werk von den Füßen auf den Kopf. Das kalkulierte, das rationale Böse, so seine Grundannahme, ist doch in Wahrheit viel gefährlicher als Aberglaube und Zauberei. Also verkörpert Ortrud bei ihm nicht die heidnische Welt, die vom Christentum bezwungen werden muss, sondern den Intellekt, das zielgerichtete Vernunftdenken.

Ausstatter Christian Schmidt hat den Innenhof einer Kaserne auf die Scala-Bühne gestellt, drei Etagen hoch, in der charakteristischen Stahlskelettbauweise des späten 19. Jahrhunderts. Inmitten der Säulenumgänge steht ein Klavier, das Symbolinstrument des bildungsbürgerlichen Zeitalters. In strenges Schwarz gekleidet, geben Telramund und Ortrud die Regeln vor: Pünktlichkeit, Reinlichkeit, Gehorsam. Wenn Elsa, mal als junge Frau, mal als Mädchendouble, an die Tastatur muss, um Etüden zu pauken, steht Ortrud neben ihr und korrigiert unerbittlich den Knickwinkel der Handgelenke. Eine grausame Gouvernante. Elsa aber ist dem strengen Drill nicht gewachsen, hat nervöse Ticks entwickelt, leidet unter manischem Juckreiz. Kurz: Sie ist dabei, sich zu einer prototypischen Sigmund-Freud-Patientin zu entwickeln.

Nicht ein Ritter in silbriger Rüstung kann sie aus dieser Drangsal befreien, postuliert Guth, sondern nur ihre Fantasie, die Gedanken, die ja bekanntlich frei sind. Also träumt sie sich hinaus in die Natur. Die diversen männlichen Gottfried- und Lohengrin-Figuren sind hier ihre Begleiter: Mal macht der kleine Bruder mit seinem Holzschwert für Elsa den Weg frei, mal folgt ihr Blick einem Jüngling mit einem Schwanenflügel. Und auch Jonas Kaufmann trägt des Knaben Wunderhorn am Gürtel. Sein Auftritt ist die Geburt des Seelenverwandten aus der Imagination: Zusammengekrümmt wie ein Embryo liegt er plötzlich da, muss die Gliedmaßen erst mühsam entfalten. Dass er barfuß geht, zeigt, wie eng er Mutter Erde verbunden ist. Ihr Brautgemach werden Elsa und Lohengrin später unter freiem Himmel aufschlagen, im Schilf am Weiher: die Hochzeitsnacht als Frühlingserwachen.

Wäre da nicht Ortrud, die alles daran setzt, die freiheitsverliebte Jungfer auf den Pfad der preußischen Tugenden zurückzuholen. Nam' und Art des Ritters erfahren zu wollen, bedeutet darum bei Claus Guth: den Rationalismus, den Wertekanon der Verstandesmenschen anzuerkennen. Wie Eva durch den Apfelbiss verliert Elsa durch die Frage ihre Unschuld. Elendig muss ihr Traum-Mann krepieren, verpuppt sich, am Boden liegend, wieder zum Embryo, während aus dem Schilf ein Kadett in Uniform tritt, kerzengerade, bis zum Hals zugeknöpft, natürlich fest beschuht. Ab sofort wird auch Elsa geschnürte Mieder tragen.

Mit einem Maximum an gedanklichem Aufwand drückt Claus Guth diese psychoanalytische Sicht dem Libretto auf. Beeindruckendes dramaturgisches Origami ist da zu erleben, aber eben auch eine ziemlich papierene Deutung. Daniel Barenboim schert das scheinbar wenig. Er dirigiert seinen Wagner so, wie man es von ihm kennt: gefühlsglühend und farbsatt. Ebenso wenig lässt sich der Maestro übrigens vom Schickimicki-Premierenpublikum aus der Ruhe bringen. Während das Vorspiel seine himmlische Schönheit entfaltet, klappen ununterbrochen Logentüren. Später sieht man neben den bläulich schimmernden Untertitel-Bildschirmen in den Sitzlehnen immer wieder Handy-Displays aufleuchten. Verdammt lang hin noch bis zur nächsten Pause, bis zum Schaulaufen in den Foyers! Bis 2400 Euro kosten die Tickets für die serata inaugurale - an keinem Abend, stöhnen die italienischen Kritikerkollegen entschuldigend, fänden sich kulturfernere Zuhörer ein. Ob sich einer von ihnen der ernsthaften Lektüre des 400 Seiten starken Programmbuchs widmen wird?

Daniel Barenboim, wie gesagt, agiert unverzagt, erzählt die musikalische Geschichte hoch emotional, sangessinnlich, taucht das Drama in leuchtende Farben. Und das Orchester der Scala folgt ihm rückhaltlos. Natürlich kann man diese Partitur durchsichtiger spielen, präziser - doch die Mailänder packen die Zuhörer unmittelbar durch ihre Leidenschaft. Da sind die sehr individuellen Holzbläser, da ist der buttrige Streicherklang, da sind die von Bruno Casoni auf prachtvoll-pralle Homogenität eingeschworenen Chormassen. Große romantische Oper also, die sich dann doch überraschend-dialektisch mit der überintellektualisierten Regie zur Synthese formt. Weil der samtglänzende Klang nicht nur zu den historischen Kostümen passt, sondern auch zur Atmosphäre auf der Szene: Im Orchester brechen sie auf, die Gefühle, die das Korsett der sozialen Konventionen abgeschnürt und ins Unterbewusstsein verdrängt hat.

Annette Dasch, im letzten Moment für die indisponierte Anja Harteros eingeflogen, vermag das Regiekonzept fast ohne Proben, aus ihrem enormen Theaterinstinkt heraus, zu beglaubigen Und auch die Stimmfärbung passt perfekt: Ein Engelsorgan braucht diese Elsa nicht, eher das Sopranweiß des erfahrungslosen, aber fantasiebegabten Mädchens. Ideal fügt sich auch Evelyn Herlitzius in das Regiekonzept. Fesselnd, wie sie die Ortrud als starke, planvoll handelnde Frau verkörpert, mit schneidend scharfer Artikulation, eine geradezu cosimahafte Erscheinung.

Dass die Premiere von Arte aufgezeichnet und zeitversetzt ausgestrahlt wird, kommt vor allem Tomas Tomasson entgegen. Auf dem Bildschirm entfaltet seine Durchgestaltung der TelramundPartie beachtliche Wirkung. Im Saal dagegen wird er darstellerisch doch deutlich von den beiden Protagonistinnen überstrahlt. Und auch was die Textverständlichkeit betrifft, wirkt hier René Papes Heinrich viel präsenter. Überhaupt gelingt es dem sehr fokussiert singenden Bassisten, der undankbaren Rolle des Königs eine hoch aristokratische Aura zu verleihen. Und Jonas Kaufmann? Erntet natürlich Jubelstürme. Was soll man da noch sagen: Männlicher, müheloser, facettenreicher als er klingt derzeit kein Lohengrin.








 
 
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