Niemand geht in die New Yorker Metropolitan Opera, um
Kammermusik zu hören. Ein Haus mit viertausend Plätzen für einen
Liederabend? Lächerlich. Der letzte Tenor, der dort nur einen
Pianisten mit auf die Bühne brachte, hieß Luciano Pavarotti. So
geschehen im Jahr 1994, als der Sänger sechzig Jahre alt und
längst eine Legende war. Und Pavarotti gab keinen Liederabend,
er sang sich durch ein buntes Gemisch aus beliebten Opernarien
und eingängigen italienischen Canzoni. Siebzehn Jahre später
durfte ihm nun Jonas Kaufmann folgen, Tenor aus München,
Jahrgang 1969. Die Met, so viel war klar, zog alle Register, um
ihr Publikum davon zu unterrichten, dass der nächste Superstar
gefunden war.
Kaufmann aber, wie immer leinwandreif mit
Wuschellocken und Dreitagebart, tat etwas buchstäblich
Unerhörtes. Um vier Uhr nachmittags am spielfreien Sonntag
begann er mit Liszts "Vergiftet sind meine Lieder" und hörte mit
Strauss' "Cäcilie" auf. Dazwischen hatte er Mahler und Duparc
aufs Programm gesetzt. Er wagte es also, einen ganz und gar
traditionellen, in jeder Hinsicht seriösen Liederabend
anzubieten. Ohne sich anzubiedern. Lediglich bei den vielen
Zugaben machte er mit Lehárs Operettenohrwurm "Dein ist mein
ganzes Herz" ein einziges Zugeständnis an den Massengeschmack.
Selbst dabei aber ließ er sich nicht zu jenen Unarten verführen,
wie sie allzu oft als Kennzeichen tenoraler Bravour
missverstanden werden.
Kaufmanns Tenor ist ein
sorgfältig gebautes und eingesetztes Instrument, das mit seinem
ungewöhnlichen Farbenreichtum, seiner Fähigkeit, dynamische
Nuancen auszukosten, und seiner noch die oberste Lage
umfassenden Biegsamkeit keine Konkurrenz hat. Das erlaubt ihm,
all seine Opernpartien, die mittlerweile auch Wagners
Halbschwergewichtler einschließen, mit der Sorgfalt und dem
Feingefühl eines Liedersängers zu gestalten. Gerade unter
großformatigen Tenören ist er damit heutzutage nichts weniger
als eine Sensation. Welcher Don José kann seine Carmen in der
sogenannten Blumenarie mit einem hohen B berücken, wie es im
sanften, samtigen Pianissimo Kaufmann zur Verfügung steht? Aber
auch den squillo, die gleißende Durchschlagskraft, hält er
locker parat, was für eine derart dunkel eingefärbte Stimme
nicht selbstverständlich ist.
Bemerkenswert, dass ein
deutscher Tenor in der internationalen Topliga auch im
französischen und italienischen Fach engagiert wird. Sogar die
notorisch mäkelnden New Yorker ließen sich in der Carnegie Hall
zu Jubelstürmen hinreißen, als Kaufmann in Francesco Cileas
Verismo-Schocker "Adriana Lecouvreur" die Spitzentöne funkeln
ließ, neben Angela Gheorghiu, der kapriziösesten aller Diven.
Mit der Gheorghiu sollte er morgen auch in der Premiere von
Charles Gounods "Faust" in der Met auf der Bühne stehen. Die
Sängerin aber will lieber nicht in einer von der English
National Opera übernommenen Produktion auftreten, die der
Regisseur Des McAnuff in die erste Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts verlegt. Als Dr. Faust, ein weltbekannter
Atomphysiker, wird Kaufmann darum die Marguerite der
feinnervigen Marina Poplavskaya vorfinden. "Salut, demeure
chaste et pure" beginnt die Cavatine, die er in ihrem Zimmer
anstimmt. Darin mutet Gounod dem Tenor am Ende einen Sextsprung
aufs zweigestrichene C zu, versehen mit einer Fermate, alles im
Piano. Für die voix mixte eine Paradestelle. Und für Kaufmanns
Kehle wie geschaffen.