Berliner Zeitung,  27. Juli 2010
Peter Uehling
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 25. Juli 2010
Ratten und kleine Noten
 
Handwerklich glänzend: Neuenfels' "Lohengrin"-Inszenierung in Bayreuth
In letzter Minute ist Hans Neuenfels noch eine Provokation gelungen. In der Polyphonie der ihm zugeteilten Publikumsreaktionen gab es sehr wohl den Kontrapunkt der Begeisterung, aber er wurde von den Buh-Lauten des Protests fast vollkommen übertönt. Seit Wolfgangs Wagners Tod, seit der Übernahme der Festspielleitung durch Eva Wagner-Pasquier und Katharina Wagner sind in Bayreuth auch die Skandale nicht mehr, was sie mal waren. Die Reaktionen waren jedenfalls angesichts der gebotenen Deutungsarbeit stark übertrieben. Auf der Grundlage glänzenden Regiehandwerks macht Neuenfels' "Lohengrin"-Inszenierung keine großen konzeptuellen Sprünge.

Aus dem allzu späten Bayreuth-Debüt von Hans Neuenfels hätte etwas werden können, zweifellos. Der erste Aufzug zeigte den im "Lohengrin" so zentralen Chor in Rattenkostümen aus Käfigen herauskommen, von Laborkräften in grünen Schutzanzügen beaufsichtigt. Die Menschen als Versuchstiere eines spirituellen Experiments, bis zur Ankunft eines Erlösers geknechtet. Bei Eintreffen des Schwanenritters werfen sie ihre nummerierten Kostüme fort, doch tragen sie nun alle den gleichen gelben Anzug. Der neue Geist befreit die Menschheit nicht zu ihrer Individualität, sondern wirft ihnen nur eine neue Uniform über. Das ist gewiss nicht originell, aber man war gespannt, wie das weitergehen würde. Der zweite Aufzug beginnt mit dem starken Bild einer kaputten Kutsche samt totem Pferd, aber in der Rattenfrage kommen wir kaum weiter - sie verliert sich alsbald in Videoklamauk und Slapstick.

Darum also am Ende noch eine Provokation. Eigentlich sind es zwei. Die eine: Lohengrin enthüllt bei seiner Abreise statt Elsas totgeglaubtem Bruder ein Ei, das sich im Drehen als ovaler Bubble-Chair erweist, und in ihm sitzt ein verschleimter Embryo. Die zweite: Nach dem abschließenden Gralsmotiv bleibt der Vorhang noch ein paar Sekunden offen. Beides zusammen schafft eine Bangigkeit, die sich ins Gedächtnis brennt. Für gewöhnlich ist die szenische Imagination an die musikalische gebunden: Musik und Licht gehen gemeinsam aus. Bleibt das Licht nur ein paar Sekunden länger an, ist der Bann der Musik gebrochen, steht ein Fragezeichen hinter ihrer Magie. In gleicher Weise bricht der Embryo die politisch-metaphysisch aufgeladene Nachfolge-Frage, die Auslöser des Dramas ist: Weil der Sohn Gottfried verschwand, ist das Herzogtum Brabant ohne Führung, und Friedrich von Telramund, getrieben von seiner karrieresüchtigen Gattin Ortrud, schwärzt Elsa von Brabant an, ihren Bruder ermordet zu haben. Lohengrin, von Elsa herbeigeträumt, schlägt im Gottesgericht Friedrich und wird zum neuen Herrscher ausgerufen. Aber Herrscher kommen nicht vom Himmel und steigen nicht aus Träumen empor. Sie werden geboren wie andere Menschen auch.

Neuenfels scheint einiges an dieser Art biologischem Realismus zu liegen: Die Ratten treten alsbald mit geöffneten Schädeln auf, ein drastisches Bild für Manipulation, aber auch eines, mit dem Neuenfels die politische Problematik des "Lohengrin", seine Missbrauchbarkeit nicht erklärt. Die Sackgassen dieser Konzeption kreuzen sich kaum mit den verschlungenen Pfaden von Neuenfels' Personenregie, die allenthalben die Wege einer interessanten Inszenierung zeigen würde. Was schwingt nicht allein in der Szene zwischen Lohengrin und Elsa im dritten Aufzug mit! Je heftiger Lohengrin Elsa umarmt, desto ferner rückt er. Elsas Frage nach Lohengrins "Nam' und Art", von diesem strikt verboten, ist auch eine tragische verlaufende Emanzipation.

Mit Annette Dasch und Jonas Kaufmann, Bayreuth-Debütanten wie er, hat Neuenfels zwei Sänger, die all diese Implikationen fesselnd vermitteln. Annette Dasch entwickelt die Partie aus dem lyrisch fokussierten Ton. Dabei hält sie eine wunderbare Balance zwischen Deklamation und Melos; die ungemein präzisen Ausdrucksnuancen, die sie dabei entdeckt, wiegen mehrfach auf, was ihrer Stimme an dramatischen Extremen fehlen mag. Jonas Kaufmann ist ein Lohengrin, wie man ihn sich immer gewünscht und doch kaum je gehört hat. Ein nachdenklicher, dunkler Tenor, der nie schreit, sondern immer singt, und das auch mit einem so mühelosen wie effektvollen piano: Das erste "Nie sollst du mich befragen" richtet er fast entschuldigend an Elsa; erst beim zweiten wird er dringlicher. Und wie Kaufmann die Gralserzählung im dritten Aufzug über die wortreiche Deklamation hinweg als großen dynamischen Zug bis zur Preisgabe seines Namens aufbaut - das war eine Sternstunde, wie sie die Annalen des Bayreuther Festspielhauses wohl seit Jahrzehnten nicht mehr verzeichnen konnten.

Denn die Vertreter der gesanglichen Notlösungen der letzten Zeit waren auch angetreten: Evelyn Herlitzius bot als Ortrud einen wüst detonierenden Kontrast zu Daschs Elsa. Hans-Joachim Ketelsen als Telramund zeigte eine Neigung zum vokalen Gestikulieren. Im Vergleich zum genau gearbeiteten Dialog zwischen Lohengrin und Elsa verlief das Streitgespräch zwischen Ortrud und Telramund am Anfang des zweiten Aufzugs ziemlich pauschal. Das lag nicht an Bayreuth-Debütant Nummer vier: Andris Nelsons dirigierte geradezu sensationell gearbeitete Rezitative, in denen sich Georg Zeppenfeld als vielfältig artikulierender König Heinrich empfahl. Nelsons ließ das Festspiel-Orchester differenzierte Farben auftragen, um durch die gedeckelte Akustik etwas von den Instrumentationswundern der Partitur zu vermitteln. Dennoch hörte man kein Gedonner; die von Eberhard Friedrich einstudierten Chöre konnten flexibel singen.

Die kleinen Noten und ihr Inhalt seien das Wichtigste, hat Wagner seinen Interpreten auf den Weg gegeben. Die überzeugenden Qualitäten der Aufführung haben sich diesen Wink zu Herzen genommen, sodass man, obwohl die großen Linien nicht überzeugten, das Festspielhaus nicht unglücklich verließ.
 






 
 
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