Schwäbisches Tagblatt, 23. Dezember 2010
JÜRGEN KANOLD
Beethoven: Fidelio, Bayerische Staatsoper, 21. Dezember 2010
Verloren im Leben
 
Calixto Bieito inszeniert den "Fidelio" an der Bayerischen Staatsoper
 
Florestan taumelt im Schlafanzug durchs Labyrinth, das kein Gefängnis ist, sondern eher eine Heilanstalt. Calixto Bieito inszeniert Beethovens "Fidelio" an der Bayerischen Staatsoper ohne jedes Freiheitspathos.
München "Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!" Diese Sätze kennt man. Florestan, der eingekerkerte Revoluzzer, verzweifelt in Ludwig van Beethovens Oper "Fidelio". Und Superstar Jonas Kaufmann stöhnt das langgezogene "Gott" im Münchner Nationaltheater als dumpfes, verschlossen-gaumiges Crescendo, als hätte dieser Gefangene seit Jahren Redeverbot.

Freiheit? Die erträumt sich Florestan nur noch im "himmlischen Reich". Doch seine Frau, sein "Engel" Leonore, arbeitet schon ganz irdisch daran, ihn zu befreien. Oder? "Es wird nie eine Tür geben", sagt sie in der Neuinszenierung Calixto Bieitos, bevor das Bayerische Orchester den ersten Takt der eigentlich jede Utopie aufschließenden Ouvertüre "Leonore III" spielt. Nein, es gibt keinen Ausgang in die Freiheit: "Erhoff nichts." Solche Sätze sind den Opernkennern allerdings fremd.

Sie stammen von dem Dichter Jorge Luis Borges (1899-1986). Der Argentinier war ein surreal-fantastischer Nachfahre Franz Kafkas, und Labyrinthe sind in seinem Werk allgegenwärtig: als ein Symbol dafür, "dass man verloren ist im Leben". So ungefähr fühlt sich auch Beethovens Florestan - vor der Rettung.

Bieito hat die braven Dialoge des "Fidelio" (in der Fassung von 1814) gestrichen und meist Borges-Zitate in die Handlung montiert. Die Bühne von Rebecca Ringst zeigt entsprechend ein gigantisches Labyrinth aus Metallrohren und Glaswänden, das irreal ausgeleuchtet ist wie eine Computersimulation. Im Schlafanzug turnt Florestan darin neurotisch herum, schon lange vor seinem Auftritt im 2. Akt. Der Mann ist nicht Opfer eines Tyrannen, einer Diktatur, sondern Gefangener seiner selbst, ein Fall für den Psychiater. Und der von Beethoven auskomponierte Sieg des Humanismus? Eher eine Farce aus Bieitos Sicht. Zumindest aber die Privatsache von Florestan und Leonore, die sich ihrer Gefühle bewusst werden müssen.

Auf jeden Fall inszeniert Bieito keine Staatsaktion. Der Gefangenenchor tritt als Gemeinschaft von Lemuren, schwebender Zappelwesen auf. "So ein Zirkus", rief in der Premiere ein erboster Zuschauer in die Szene hinein. Das Münchner Staatsopernpublikum muss sich noch an Bieito gewöhnen. Aber es feierte die Sänger: allen voran Anja Kampe als unverkrampft hell-dramatische, in allen Registern sichere Leonore und Jonas Kaufmann, der mit kräftig italienisch gefärbten Tenorausbrüchen gefiel, aber auch zuweilen schlurig grummelte. Einen brutalen Pizarro sang Wolfgang Koch.

Der oft als Skandalregisseur verschrieene Bieito, der ein musikalischer, sehr schlauer Kopf ist und kein billiger Provokateur, hat sich ziemlich viel Gedanken gemacht über den "Fidelio", und in Interviews benannte er die wahren "Gefängnisse der westlichen Welt": Gefühlszustände wie Liebe, Treue, Verwirrung, Depression. Entsprechend zieht er seinen "Fidelio" weg von einem real-politischen Drama, hin zur Abstraktion innerer Gefühlswelten - leider auf Kosten der emotionalen Wucht, die manche Bieito-Inszenierung auszeichnet.

Doch konsequent erzählt der Regisseur seine Pathos-verweigernde Version: Nach der Emphase der "namenlosen Freude" fahren Musiker in Käfigen vom Himmel, spielen das Molto adagio aus Beethovens Streichquartett op. 132 - das vereinte Paar Florestan und Leonore taumelt still im Labyrinth. Der eigentlich heilbringende Minister Fernando (herrlich aufreizend: Stephen Humes) taucht unter Spotlight in der Proszeniumsloge auf, und zwar in der Gestalt Jokers, der Verkörperung des nihilistisch Bösen in der Batman-Verfilmung "The Dark Knight". Ferrando knallt auch mal zum Spaß mit der Pistole den Florestan ab und malt das Wörtchen "frei" aufs weiße Schild, das die glücklichen Eheleute an einer Drahtschlinge um den Hals tragen.

Buhs, aber auch Jubel für Regisseur Bieito. Ordentlich Unmut erntete ebenso Daniele Gatti am Pult des Bayerischen Staatsorchesters: genaues Arbeiten an Details, der Versuch, den Beethoven aufzurauen; aber auch teils leidenschaftslos langsame Tempi, gebremste Emphase und ein seltsam erdenschwerer - gefangener - Klang.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
  www.jkaufmann.info back top