Opernwelt, Februar 2007
Andrew Clark
Bizét: Carmen, London, 8. Dezember 2006
Ohren auf, Augen zu
Würde man die neue «Carmen» in Covent Garden an der Zahl der Hintern messen, die sie auf die Stühle des Royal Opera House lockt, müsste man sie einen spektakulären Hit nennen. Francesca Zambellos Inszenierung gibt dem Publikum Zucker, die Produktion wird sich zweifellos als ebenso langlebige wie profitable Repertoire-Nummer bewähren.

Macht man das Urteil indes an den Einsichten fest, die Zambello zu dem gut abgegriffenen Musikdrama bietet, fällt die Bilanz niederschmetternd aus. Ich habe noch nie eine Produktion gesehen, die mit Bizets Personal so unbeteiligt umgesprungen wäre. Hat die an Velázquez erinnernde Ausstattung (Tanya McCallin) mit von Paule Constable opulent ausgeleuchtetem maurischen Flair und historischer Kostümierung ihre Wirkung entfaltet, fragt man sich bald, wann das Ganze wohl über den schönen Schein hinauswächst. Die Antwort: in keiner Phase.

Unter all den Eseln, Pferden, Tänzern, Akrobaten, Seilartisten, behinderten Kindern und Waschfrauen, die die Bühne verstopfen, schrumpfen Carmen, Don José und Escamillo zu Nebendarstellern. Diese «Carmen» passt in Arenen wie die Royal Albert Hall oder Earl’s Court – in einem Opernhaus mit künstlerischem Anspruch hat sie nichts zu suchen.

Ist Bizets tragische Heldin nun eine notorische Verführerin oder nicht? Ein überzeugter Freigeist oder eine verkappte Hausfrau? Eine gesellschaftliche Außenseiterin, eine frühe Ikone des Feminismus? Die Regisseurin kommt gar nicht auf die Idee, solche Fragen zu stellen. Und Covent Garden braucht so dringend kommerzielle Erfolge, dass man im Fall eines so populären Stücks jedes Risiko scheut. Das Ergebnis ist eine «Carmen», die sich ohne Hemmungen dem sogenannten Massen­geschmack anbiedert. Wenn da nicht wenigstens der Musik­chef des Hauses gegengesteuert hätte...

Antonio Pappano dirigiert die Partitur ohne jeden Anflug von sentimentaler, klischeehafter Pathetik. Er lässt das Orchester so rein aufblühen, dass man all den schwülen Melodien, der glühenden Hitze, der großspurigen Süße unwillkürlich verfällt. Die überbordende ­Energie der Ouvertüre gibt das Maß vor, und immer wieder gelingt es Pappano, uns die luftige Qualität der Musik zu vermitteln. Das hohe musikalische Niveau ­offenbart sich auch in der Leistung des vorzüglich prä­parierten Chores (Renato Balsadonna). Einziger Einspruch: Warum wurde die erste Szene des Schlussaktes gestrichen?

Star des Premierenabends war Jonas Kaufmann: ein attraktiver Don José ohne Macho-Gehabe. Kaufmann zeichnet das Porträt eines naiven jungen Mannes, der seine Leidenschaft nicht in den Griff bekommt. Er ist ein geborener Schauspieler, verkörpert genau jene Mischung aus Unschuld und Virilität, die ihn als Don José glaubwürdig erscheinen lassen. Kaufmanns Stimme hat durchaus einen heroischen Zug, doch setzt er sie lyrisch ein: In der «Blumenarie» erreicht er ein beglückendes Gleichgewicht zwischen Spannung und klarer Linie. Ein Stilist, der frei von jenen Unwägbarkeiten des Temperaments zu sein scheint, die so oft bei Tenören anzutreffen sind.

Auch die Chemie mit Anna Caterina Antonacci stimmt – die beste Bühnenpartnerschaft in dieser Oper seit Agnes Baltsa und José Carreras. Es ist nicht eine animalische Attraktion, welche die Beziehung Carmen-Don José hier prägt. Schon deshalb nicht, weil Antonacci eine eher unaufdringliche, an den ursprünglichen Konturen der Figur orientierte Carmen gibt. Sie sieht bezaubernd aus, lächelt unwiderstehlich, balanciert gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Jugendlichkeit und Reife. Eigentlich kein Typ, auch kein Stimmtyp, dem die Masse per se zu Füßen liegt. Freilich ebenso wenig ein Klischee. Man fragt sich, wie wohl eine einfallsreichere Regie die Carmen Anna Caterina Antonaccis ins Spiel gebracht hätte.






 
 
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