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Berliner Zeitung, 26.04.2004 |
Jan Brachmann |
Schubert: Messe in Es-Dur, Berlin, April 2004
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In leiser, strenger Selbstbefragung
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Gegen den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt werden
in jüngster Zeit häufiger Vorwürfe laut. Er habe sich abgekehrt von seinem
ursprünglichen Anliegen, verschüttete Traditionen des Musizierens
freizulegen, die sogenannte Alte Musik nicht auf bedeutungsleeren Schönklang
zu reduzieren und ihr die Sinnfülle der Klangrede zurückzugeben. Bei einem
Pressegespräch anlässlich der Berliner Biennale für Alte Musik "Zeitfenster"
sagte der belgische Dirigent Jos van Immerseel kürzlich: "Wenn Harnoncourt
ein modernes Orchester wie die Berliner Philharmoniker dirigiert und ältere
Musik spielt, dann wird da nur oberflächlich etwas anders gemacht. In der
Tiefe des Musizierens ändert sich nichts".
Von Donnerstag bis Sonnabend hat Harnoncourt wieder die Philharmoniker
dirigiert. Die 1. Symphonie von Franz Schubert und dessen späte Es-Dur-Messe
standen auf dem Programm. Und in der Tat klang, was man dort zu hören bekam,
zunächst nach einem Kompromiss. So sorgsam Harnoncourt auch die
Holzbläserlinien in der Einleitung der Symphonie herausmodellierte - die
Streicher bildeten dagegen nur eine öde, nichtssagende Klangfläche. Sehr
viel belebter, nach Innen differenzierter hört man diesen Streichersatz in
der Aufnahme, die Immerseel mit seinem Orchester Anima eterna vor drei
Jahren veröffentlicht hat. Auch die knirschenden Dissonanzen der Bläser am
Ende des ersten Satzes arbeitet Immerseel viel stärker heraus, als
Harnoncourt es am Freitag getan hat.
Dennoch kann man von einem Kompromiss nicht reden. Vielmehr hat es den
Anschein, dass Harnoncourts Interesse sich grundsätzlich verlagert: weg von
der Inszenierung des Schreckens im Detail, hin zur Arbeit an der
musikalischen Großform. Und diese Arbeit förderte bei Schubert doch ein
erstaunliches, satzübergreifendes Gestaltungsprinzip zutage. Im ersten,
zweiten und vierten Satz der 1. Symphonie gibt es jeweils in der Mitte, kurz
vor der Reprise des Anfangsthemas, Momente, wo die Streicher schweigen. Die
Holzbläser lösen sich aus dem Orchesterverband, verknoten durch ihre kühnen
Zusammenklänge eindrucksvoll musikalische Verdichtung und formalen Zerfall
miteinander. Mit der Reprise festigt sich dann die formale Kontur, der Klang
aber wird konventionell.
Interpretierbar ist Harnoncourts treffende Beobachtung über das
"Reinmusikalische" hinaus: Dort, wo die Individualität sich aus dem Korsett
der Form und des Kollektivs löst, tritt sie zugleich in den Zustand ihrer
größten Gefährdung ein. Da sie sich keiner Instanz mehr versichert, die über
ihr eigenes unverwechselbares, aber ephemeres Dasein hinausgeht, wird sie
selbst genau dies: unverwechselbar, aber ephemer, also momenthaft, dem
Mutwillen der Zeit, der Gunst des Tages ausgeliefert.
Diese Spannung von großformalem Zwang und individueller Gestik scheint zu
einem Ausgangspunkt strenger Selbstbefragung von Harnoncourts eigenen Thesen
des Musizierens geworden zu sein. Schon in seiner Aufnahme der
Beethoven-Klavierkonzerte im letzten Jahr wurde deutlich, dass die Hingabe
an die Details musikalischer Rhetorik, an den artikulierten Moment
menschlicher Existenz, zurücktritt hinter einem größeren Respekt für die
musikalische Form. Harnoncourt verändert sich, je intensiver er sich mit der
Musik des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt (gerade ist seine erste
Bartók-CD erschienen).
Damit einher geht eine grundsätzliche Milderung seines Musiziertons: Das
Agitatorische verliert sich. Schuberts Es-Dur-Messe erklang am Freitag als
ein festes, aber leises, ein sehr bestimmtes, gleichwohl einsames
Bekenntnis. Ein so energisches Pianissimo wie jenes vom Rundfunkchor Berlin
(Einstudierung: Uwe Gronostay) bekommt man selten zu hören. Auch die
Gesangssolisten (Dorothea Röschmann, Bernarda Fink, Jonas Kaufmann,
Christian Elsner, Christian Gerhaher) haben sich diese äußerst entschiedene,
aber keineswegs zwanghafte Haltung zu eigen gemacht. Hier sollte niemand
mehr durch Rhetorik gewonnen werden, so konzentriert auch jedes Wort
gesprochen wurde; hier ging es um Prüfung und Klärung dessen, was man vor
andern Menschen nicht zu verantworten hat und ihrem Druck auch niemals
preisgeben darf. |
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