Fränkische Nachrichten – 04.09.2002
Dieter Schnabel 
Fidelio, Stuttgart, Liederhalle, 1.9.2002
"Fidelio" zur Halbzeit aufgeführt
Oper wurde "in einer neuen, wissenschaftlich gesicherten Version" vorgestellt / Original Notentext
Bei einem Festival, das die 175. Wiederkehr des Todestages des Komponisten am 26. März dieses Jahres zum Anlass nimmt, ihn und sein Werk in den Mittelpunkt zu stellen, bei dem seine sämtlichen neun Sinfonien innerhalb vor elf Tagen erklingen, viele Sonaten und Streichquartette sowie sein Leben in Briefen und Dokumenten vorgestellt werden, darf selbstverständlich dessen einzige Oper auch nicht fehlen. Die Rede ist von Ludwig van Beethoven, dessen "Fidelio" jetzt zur Halbzeit des diesjährigen Europäischen Musikfestes im Beethoven-Saal der Stuttgarter Liederhalle aufgeführt wurde. Das Besondere an dieser Präsentation war "Fidelio" in neuer Gestalt - und das in doppelter Hinsicht.

Zum einen wurde die Oper "in einer neuen, wissenschaftlich gesicherten Version" vorgestellt, "die den originalen Notentext wieder herstellt". Dabei wurden keine neuen Arien oder Ensembles entdeckt, wohl aber "zahlreiche Details der Dynamik, des Klanges, der Orchesterbesetzung und auch ganz konkret in den Tönen" gegenüber "der bisher bekannten, in den gedruckten Partituren verbreiteten musikalischen Gestalt" verändert. Grundlage war dabei eine "gründliche Erforschung der musikalischen Originalhandschriften." Dazu bedurfte es einer Rekonstruktion der "Leonore", der älteren Fassung des "Fidelio", die "1814 die Grundlage für Beethovens letzte Revision seiner Oper" und damit "die Voraussetzung für den neuen ,Fidelio'" war.

Zum anderen wurde der "Fidelio" in Stuttgart mit neuen Zwischentexten vorgestellt. Glaubte vor Jahren Walter Jens, der emeritierte Tübinger Professor für Rhetorik, dem Kerkermeister Rocco zu seiner Aufgabe als Sänger auch noch die eines Erzählers aufbürden zu müssen, der die Geschichte im Rückblick zum Besten gibt, so meinte jetzt Ernst Poettgen, der ehemalige Professor an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, die ursprünglichen Dialoge durch eine "Chronologie in Dokumenten" ersetzen zu müssen. Doch beide Professoren irrten bei ihren Versuchen, die gewiss angreifbaren Texte von Joseph Sonnleithner und Friedrich Treitschke durch vermeintlich Besseres ersetzen zu können.

Hatte das erste Unternehmen zur Folge, dass ein Sänger die Partie bestreitet, die Ludwig van Beethoven vertont hat und, dass ein Sprecher die Texte spricht, die ihm Walter Jens in den Mund gelegt hat, wobei sich dieser Sprecher als ständig retardierendes Element der Aufführung erwies, weil er immer wieder die Musikdramatik des Geschehens unterbrach, so war das zweite Unternehmen im Ergebnis keinesfalls besser, nur anders. Ernst Poettgen präsentierte "fiktive Beweisstücke, recherchiert und zusammengetragen für einen möglichen Gerichtsprozess". Diese angeblichen Dokumente aus Sevilla in den Jahren 1793 bis 1795 sind Kommentare zu dem Geschehen und werden von zwei Sprechern (Tobias Grauer und Ulrike Möller) vorgetragen und -gelesen, wobei sie in einem Fall sogar noch mit Musik unterlegt sind oder über diese hinweg gesprochen werden. Zusammen mit der vermeintlichen szenischen Realisierung, für die ebenfalls Ernst Poettgen verantwortlich zeichnet, sind diese überflüssigen, neuen, keine neuen Dimensionen des Musikdramas eröffnenden Texte jedoch das schwächste Glied der Aufführung.

Was das so genannte "Konzert in Szene" betrifft, ist es von vornherein ein Zwitter, weder Fisch noch Fleisch. Wenn der Berliner Musikschriftsteller Ernst Krause einmal meinte: "Das Seelendrama 'Fidelio', spielt sich gewissermaßen zwei Mal ab, sichtbar auf der Bühne, hörbar in der Musik", so trifft das auf den "Fidelio" im Rahmen des Europäischen Musikfestes Stuttgart keinesfalls zu. Was sich da auf drei Podesten auf der Bühne, rechts, links und hinter dem Orchester und dazu im Hintergrund, wo der Chor platziert ist, ereignet, das hat mit musikdramatischer Rollengestaltung nicht entfernt etwas zu tun, wenn etwa Leonore mit einer Pistole herumfuchtelt, Marzelline mit dem Staubtuch wedelt, Rocco einen Spaten in der Hand hat, die Choristen vor den Don Fernando auf den Knien liegen oder was es noch an Andeutungen eines Spieles zu sehen gibt. Dann lieber eine konzertante Aufführung im Frack und Abendkleid als diese Spielereien, zumeist in schwarzen Hosen und Blusen!

Von ganz anderem Kaliber und in jeder Beziehung grandios ist dagegen die musikalische Deutung des neuen "Fidelio" von Helmuth Rilling mit dem Festival Chor und Orchester. Und auch die Solisten - Amanda Mace (Leonore), Sibylla Rubens (Marzelline), James Taylor (Jaquino), Markus Eiche (Don Fernando), Dietrich Henschel (Don Pizarro), Franz-Josef Selig (Rocco) und vor allem Jonas Kaufmann (Florestan) - können gefallen.






 
 
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