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Kronen Zeitung, 06.12.2023 |
Stefan Musil |
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„Wann hat man bei "Turandot" zuletzt geheult?“
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Viele erste Male! Tenor Jonas Kaufmann steht in der Wiener Staatsoper in der
Neuproduktion von Puccinis „Turandot“ zum ersten Mal als Calàf auf einer
Bühne. An seiner Seite gibt Sopranistin Asmik Gregorian ihr Rollendebüt als
Turandot. Außerdem haben die beiden Superstars noch nie gemeinsam Oper
gesungen! Die „Krone“ sprach mit dem Sänger kurz vor der Premiere am
Donnerstag.
Es ist ein Märchenstoff und handelt von einer Prinzessin,
die nur den heiraten darf, der drei Rätsel löst. Alle Versager werden
geköpft. Dem Prinzen Calàf jedoch gelingt das Kunststück. Turandot will den
ihr Unbekannten aber trotzdem nicht heiraten. Er bietet ihr daher sein Leben
an, falls sie vor Sonnenaufgang seinen Namen herausfindet. Jonas Kaufmann
hat die Partie des Calàf erst einmal konzertant unter Antonio Pappano
gesungen. Davon existiert eine CD. Auch kennt man die berühmte Arie „Nessun
dorma“ aus seinen Konzerten. Doch in der Regie des gerne gedankenreich und
hintergründig analysierenden Claus Guth gibt der Tenor in der Wiener
Staatsoper jetzt sein Rollendebüt in einer szenischen Produktion. Die
„Krone“ sprach mit dem Sänger kurz vor der Premiere am Donnerstag.
„Krone“: Warum kommt Ihr Calàf so spät? Jonas Kaufmann:
Na ja, man kann nicht alles gleichzeitig machen. Und ich muss ehrlich sagen,
dass ich mich mit „Turandot“ nie so richtig anfreunden konnte. Es gibt
natürlich diese eine wahnsinnige Nummer, „Nessun dorma“. Es gibt noch mehr
verrückte und tolle Momente, wie Turandots „In questa reggia“-Arie, den
Kinderchor, oder bestimmte Motive, die einen wirklich verfolgen, weil die
Melodien so großartig sind.
Aber immer, wenn ich Turandot gesehen
habe, war das ein wahnsinniger Pomp, mit gefühlt tausend Leute auf der
Bühne. Man hatte große Mühe, zu verfolgen, wo die Solisten sich gerade
befinden. Doch die Geschichte ist ohnehin irrsinnig genug.
Viel Logik scheint in dieser Handlung tatsächlich nicht zu stecken?
Es dreht sich alles um diese Frau, dabei erfährt man kaum etwas von ihr. Sie
erzählt am Anfang ihrer Arie von der Vorfahrin, der Principessa, dann stellt
sie ihre drei Rätsel und im dritten Akt ist sie nur noch gemein. Dann küsst
Calàf sie mit Gewalt und es gibt ein Happy End. Es ist so skurril. Wenn ich
etwas auf der Bühne, mache, muss mich auch der Charakter interessieren, und
ich möchte eine Geschichte erzählen.
Pinkerton ist ein
Schwein Ich bin deswegen auch nie als Pinkerton in „Madama
Butterfly“ auf der Bühne gestanden. Denn wenn man den richtig spielt, dann
muss der Pinkerton ein Schwein sein, ganz böse, kein sympathischer
Charakter. Da bin ich vielleicht nicht d’accord mit allen meinen Kollegen,
aber wenn man es rollenentsprechend macht, kann man nichts gewinnen.
Wieso dann jetzt trotzdem „Turandot“? Was hat Sie überzeugt?
Zum ersten wegen Asmik Grigorian als Turandot. Wie Sie wissen, wurde bereits
im Vorfeld viel über diese Besetzung geschrieben und geunkt. Aber Tatsache
ist, sie macht es großartig und hat nicht die leisesten Mühen mit dieser
Partie. Vor allem ist sie eine zerbrechliche, junge Frau, der man einfach
nicht böse sein kann. Sie strahlt nicht nur diese Kälte aus, ist nicht diese
Puppe, die man sich als Turandot gerne vorstellt.
Herzzerreißend Zum zweiten spielen wir das Finale „Alfano I“.
Das macht Sinn. Es ist natürlich länger und schwieriger, aber die Geschichte
wird erzählt. Man spürt plötzlich, wie diese Frau hin- und hergerissen ist,
weil sie einerseits ihre Ängste mit sich trägt, anderseits von ihren
Gefühlen zu Calàf übermannt ist. Es ist wirklich herzzerreißend. Auch
deshalb habe ich lange zugewartet, weil diese Fassung nur sehr selten
gespielt wird.
Giacomo Puccini starb 1924, über dem Finale
seiner „Turandot“. Er soll sich Riccardo Zandonia („Francesca da Rimini“)
für die Fertigstellung gewünscht haben. Die Familie, der Verleger Riccordi
und der Uraufführungsdirigent Arturo Toscanini wählten jedoch den jungen
Franco Alfano. Seine Fassung ging dann - allerdings gekürzt - in
Druck, wird seither meist gespielt. Alfanos ursprüngliche Vollendung wurde
erst 1978 wieder entdeckt - und wird jetzt in Wien gespielt. Wie sieht diese
Fassung aus? Der arme Franco Alfano kam ein bisserl dazu wie die Jungfrau
zum Kind. Aber er hat das sehr anständig gemacht. Man muss auch bedenken,
wir alle reden immer über „Turandot“ als ein Spätwerk, wo man die ganze
großartige Raffinesse und Erfahrung eines extrem überdurchschnittlich
begabten Komponisten erkennen kann. Es wird von der neuen Klangwelt, von der
Pentatonik gesprochen. Aber es sind auch der Rhythmus, die Harmonien neben
der Pentatonik, die sehr modern, sehr jazzig sind. Puccini war ganz am Puls
der Zeit. Da wird es für jeden anderen Komponisten schwierig anzuknüpfen.
Ein dickes Ende Das Einzige, was man Alfano
vorwerfen kann, ist, dass er es ein bisserl sehr üppig komponiert hat. Das
ist bei Puccini auch öfters der Fall, gerade der erste Akt ist so
bombastisch, dass man wirklich Schwierigkeiten hat, das Orchester zu zügeln,
um den Sänger eine Chance zu geben. Aber das Alfano-Ende ist schon sehr
dick!
Wo liegen dann die Vorteile von „Alfano I“?
Er hat all das so vertont, wie auch die Textdichter den Stoff enden lassen
wollten. Dann passierte diese berühmte Geschichte mit Toscanini. Der meinte,
das ist zu viel, zu lang und geht überhaupt nicht. Es wurde also gekürzt,
verändert, da und dort ein Stückchen weg gezupft. Toscanini hat es aber dann
gar nicht aufgeführt, sondern den Taktstock niedergelegt, als die originalen
Puccini-Töne zu Ende waren.
Wie fordernd ist die Erstfassung
für die Sänger? Was bringt das längere Ende der Geschichte?
„Alfano I“ verlangt noch ein paar nicht gerade angenehm geschriebene Phrasen
mehr. Es ist auch länger. Es geht schon mit dem Kuss los, der in der zweiten
Fassung in ein paar wenigen Takten abgehandelt wird. Bei der ersten dauert
er eine ganze Klavierauszugsseite lang, wo sich die Emotionen langsam
aufbauen bis zum Klimax des Kusses und dann langsam verebben und ins Nichts
zurückgehen. Allein das macht einen Riesenunterschied, bringt auch dem
Zuschauer ein Mehr an Glaubwürdigkeit.
Turandot ist wie eine
Spinne, die die Männchen anlockt und auffrisst. Was fasziniert Calàf an
dieser kühlen, unnahbaren Frau? Sie ist nicht nur eine Spinne,
sondern wie bei Walter Moers eine „Waldspinnenhexe“. Ein Wesen, das in
seinem Netz sitzt und irgendwelche Pheromone ausdünstet, sodass man gar
keine Spinne mehr sieht, sondern nur die eigenen kühnsten und schönsten
Fantasien zur Wahrheit werden. Bis man dann das Netz anlangt und fest pickt!
Nach zwei Minuten verfallen! Es ist absurd. Es wird
verkündet, dass die Heiratskandidaten reihenweise geköpft werden, berichtet,
wie der Prinz von Persien soeben sein Leben verwirkt hat. Calàf kommentiert,
wie schrecklich, wie grausam, wie furchtbar diese Frau ist, und möchte sie
umbringen. Dann vergehen keine zwei Minuten Musik, und er singt, wie
wunderbar, großartig, betörend, was für ein Traum sie ist. In dem Moment, wo
er sie sieht, spürt oder riecht oder was auch immer, ist er dieser Frau
verfallen.
Rational gesehen könnte man jetzt sagen, vielleicht hat er
ihr in die Augen geblickt und darin die Zerbrechlichkeit gesehen, die
Grausamkeiten, die ihr als Kind zugefügt wurden. Dadurch wurde das
Helfersyndrom in ihm geweckt und er will sie retten aus dieser barbarischen
Gesellschaft. Oder er ist so jung und unerfahren, dass diese Liebe oder auch
nur körperliche Attraktion, die er spürt, so neu und umwerfend für ihn ist.
Wie wird dieses Dilemma in der Neuproduktion gelöst?
Claus Guth hat eine sehr schöne Lösung gefunden. Man spürt, dass diesem
Mädchen wohl arg mitgespielt worden ist. Dass sie aus ihrer Kindheit gar
nicht rauskommt, ein zu groß gewachsenes Mädchen ist. Es wird deutlich, dass
diese Grausamkeit, die man ihr vorwirft, nicht ihre Schuld ist. Es sind die
Regeln des Hofes - und die vielen, vielen Köpfe, die sie schon unter ihrem
Bett gefunden hat, haben es ihr auch nicht leichter gemacht.
Keine Massenaufmärsche Ich habe schon während der Proben viele
Stimmen gehört, dass diese Sicht einen sehr rührt. Wann hat man denn bei
einer Turandot zuletzt geheult? Die Entschlackung durch Claus Guth habe ich
am Anfang auch eher als gewagt empfunden, denn natürlich ist Turandot eine
Massenoper. Hier ist der Chor aber so zurückgenommen, sodass man sich ganz
auf die Solisten und ihre Geschichten, Vernetzungen und Wandlungen
konzentrieren und damit wirklich mitfühlen kann. Das macht den großen
Unterschied zu anderen „Turandot“-Produktionen aus.
Gibt es
viel chinesische Exotik in der Inszenierung von Claus Guth, die von Etienne
Pluss (Bühne) und Ursula Kudrna (Kostüme) ausgestattet wurde?
Nein. Man könnte sagen, es spielt in Nordkorea. Man sieht ein uniformiertes
Regime. Chor und die meisten Solisten schauen alle exakt gleich aus. Das
zeigt, wie unwichtig der einzelne ist an diesem Pekinger Hof ist. Ich
glaube, das kommt gut rüber, ohne dass man das viele Gold und die über die
Bühne getragenen Drachen vermisst.
Ein nicht erkannter
multiresistenter Bakterienstamm in Ihrer Lunge hat Ihnen längere Zeit
Schwierigkeiten beim Singen gemacht. Mit der Lunge ist jetzt wieder alles in
Ordnung, die Keime sind weg? Ja! Für mich jeden Tag fast wie ein
Wunder, weil man singt und singt ohne ständig in diesen Hustenreiz zu
kommen. Ich habe den gefühlt so lange mit mir herumgetragen, dass ich mich
schon daran gewöhnt hatte, dass die Lunge plötzlich zumacht und das Singen
zwar nicht unmöglich, aber doch sehr erschwert wird.
Vollgas
mit angezogener Bremse Das war, als ob man auf einer glatten
Straße permanent mit Gas und Bremse versucht, irgendwie durchzueiern, aber
nie normal zügig fahren kann. Denn wenn man Gas gibt, rutscht man sofort
weg, wenn man bremst, kommt man sofort ins Schleudern. Gott sei Dank ist es
jetzt wieder so, dass ich meinem Instrument vertrauen kann.
Sie haben ein ungeheuer breites Repertoire. Dennoch, gibt es noch
Wunschpartien? Kommt der Tristan wieder? Ganz bestimmt. Im
nächsten Jahr singe ich den zweiten „Tristan“-Akt konzertant. Ich werde ihn
auch wieder in voller Länge singen. Aber ich muss zugeben, die Situation mit
meiner Lunge im letzten dreiviertel Jahr, hat mich schon zweifeln lassen, ob
ich mir das noch einmal antue. Denn auch der Tannhäuser, mit dem ich zu
Ostern in Salzburg debütiert habe, ist mir deutlich schwerer gefallen, als
ich geglaubt habe. Jetzt kann man das ganz anders betrachten und
entsprechend werden auch wieder die Weichen gestellt.
Enzo
Grimaldi statt Siegfried Der Siegfried wird wohl nicht kommen.
Wagners „Ring“ ist ein großartiges Werk, aber es ist ein unfairer Kampf, den
der Held im „Siegfried“-Finale führt, wenn er schon zwei Akte in der Kehle
hat. Und dann kommt die frisch ausgeruhte Kollegin als Brünnhilde und bläst
ihn förmlich von der Bühne. Man könnte den dritten Akt „Siegfried“ einmal
konzertant machen.
Zu Ostern kommt in Salzburg als neue Rolle der
Enzo Grimaldi in „La Gioconda“. „Fedora“ würde ich gerne singen,
„Maskenball“ habe ich noch nie gemacht. Ich weiß auch nicht, ob ich das noch
schaffe. Es gibt auch andere Opern von Britten als den „Peter Grimes“.
Vielleicht Palestrina und „Buch mit sieben Siegeln“
Langweilig wird einem nicht. Es bleibt spannend, aber es ist langsam auch
vorbei mit den vielen, vielen großen Partien, die mir unter den Nägeln
brennen. Vielleicht auch unbekannteres Repertoire, wie Pfitzners Palestrina.
Doch der hat Zeit, der ist kein junger Mann. Ich habe etwa auch noch nie
Schmidts „Buch mit den sieben Siegeln“ gesungen. Aber das muss man in
Österreich machen, weil es in Österreich weltbekannt ist, außerhalb kaum
gespielt wird - was mir unverständlich ist.
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