Wiener Staatsoper, 5. Dezember 2023
ANDREAS LÁNG IM GESPRÄCH MIT JONAS KAUFMANN
 
 
„MIT DIESEM PRINZEN KANN »TURANDOT« GESUNDEN
 
Nur zwei Monate nach der Premiere der vorletzten Puccini-Oper Il trittico wird am 7. Dezember eine Neuproduktion der letzten Puccini-Oper Turandot in der Inszenierung des Regie-Großmeister Claus Guth und unter der Leitung Marco Armiliatos vorgestellt. Im Fokus der internationalen Opernwelt stehen darüber hinaus Asmik Grigorian und KS Jonas Kaufmann in den beiden Hauptrollen: Denn KS Jonas Kaufmann wird nach einer fulminanten Otello-Serie an der Wiener Staatsoper sein weltweites szenisches Calaf-Debüt geben und Asmik Grigorian wird ihre allererste Turandot überhaupt singen. Zwei Wochen vor der Premiere und knapp vor den Endproben gaben die beiden Ausnahmekünstler Interviews.

al In der Turandot-Neuproduktion von Claus Guth hat es Calaf nicht mit einer pompös aufgetakelten Prinzessin inmitten ihres gewaltigen Hofstaates zu tun, sondern mit einer jungen Frau, die gerne im Nachthemd auf ihrem Bett kauert und sich mit Puppen in ihrem Schlafzimmer verbarrikadiert.

jk Das Fehlen der üblichen herumwuselnden Massenszenen, die wohltuende Aufgeräumtheit des Bühnenbildes und der Personenführung hat den großartigen Effekt, dass man sich darauf konzentrieren kann, was zwischen den zentralen Charakteren passiert. Ich finde es eine geniale Zugangsweise, Turandot nicht jene oft gesehene äußerliche Unnahbarkeit aufzustempeln, die ihr ein wenig die Anmutung einer hexenhaften Spinne verleiht, die in ihrem Netz auf Beute wartet. Denn üblicherweise fragt man sich schon, was die Motivation all jener Prinzen ist, ihr Leben wegzuschmeißen, nur um dieses gefährlich-bombastische Wesen gewinnen zu können. In unserer Produktion habe wir vordergründig gesehen, dieselbe Ausgangssituation: Eine Reihe von Prinzen, zuletzt der fremde, vertriebene Calaf, verlieben sich unsterblich in Turandot. Aber der Beweggrund, das Wagnis der Rätsel auf sich zu nehmen, ist ehrenvoller, da ein Spüren dahintersteht, wie sehr diese offenbar traumatisierte Frau dringend jemanden braucht, der sie aus ihrer mehr als bedrückenden Situation herausholt. Wenn Calaf am Schluss Turandots Eiseskälte anspricht, dann spielt er auf ihr Grundproblem an, das darin besteht, Nähe und Geborgenheit mit einem Eingekerkertsein zu verwechseln. Darum verweigert sie Calaf zunächst auch den Kuss, nicht, weil sie ihn nicht mag. Natürlich haben wir während der Vorstellung nicht so viel Zeit, wie es im wirklichen Leben braucht, um seelische Wunden zu heilen, aber wir versuchen möglichst viele erkennbare Schritte einzubauen, die dazu führen, dass Turandot sich am Ende öffnen kann.

al All die Prinzen, inklusive Calaf, leiden also unter einem Helfersyndrom?

jk Ein bisschen, ja, aber es geht dann doch um leidenschaftlich entbrannte Liebe in einem Märchen. Ich habe mit Claus Guth natürlich viel darüber diskutiert, was denn letztlich zu diesem plötzlichen Emotionswandel bei Calaf führt. Eben verflucht er Turandot noch und paar Sekunden später ist er ihr wie in einem Drogenrausch hundertprozentig verfallen. So etwas dürfte einem normal ausgeruhten Geist eher ungewöhnlich vorkommen. Wahrscheinlich ist etwas in dem Blick dieser Frau, das ihn fasziniert und dazu bringt, ein Abenteuer zu wagen, das durchaus mit dem eigenen Tod enden könnte.

al Ein eher pubertäres Agieren…

jk Absolut. Auch Calaf muss im Laufe der Geschichte einen Reifungsprozess durchmachen. Zunächst ist er naiv, unbedarft-spontan, denkt nicht unnötig kompliziert um die Ecken. Darum erkennt er übrigens die Liebe Liùs vorerst auch gar nicht – erst nach ihrem Selbstmord begreift er die Gefühle dieser anderen jungen Frau.

al Könnte diese Unbedarftheit auch erklären, warum Calaf, im Gegensatz zu allen anderen, die als unbeantwortbar geltenden Rätsel Turandots lösen kann?

jk Vermutlich. So viel intelligenter als seine Vorgänger wird er nicht sein und so ultraschwer sind diese Rätsel letztendlich auch nicht. Calaf ist einfach weniger aufgeregt, weil er sich im wahrsten Sinn des Wortes keinen Gedanken um seinen Kopf macht. Eine andere Frage ist, warum all jene, die bei der Beantwortung versagen, enthauptet werden. Auch darüber haben wir viel diskutiert. Der einzig einleuchtende Grund wäre, dass immer dieselben drei Fragen aufs Tapet kommen und verhindert werden soll, dass jene die falsch raten und daraufhin zwangsläufig die richtige Antwort erfahren, diese an den nächsten Kandidaten verraten.

al Es fällt auf, dass Calaf bei der Beantwortung der drei Rätsel unterschiedlich lange braucht: Nummer 1 – »Hoffnung« – hat er sofort erraten. Für die zweite Antwort »Blut« braucht er schon länger und bis er drittens »Turandot« nennt, vergeht eine gefühlte Ewigkeit.

jk Das hat primär dramaturgische, theaterpraktische Gründe. Puccini ging es natürlich darum, Spannung aufzubauen und möglichst lange anhalten zu lassen. Ähnliches finden wir am Schluss: Wird Turandot Calaf verraten, nachdem sie von ihm selbst seinen Namen erfahren hat? Es herrscht eine spannungsvolle Ungewissheit, die erst mit dem Satz »Ich kenne den Namen, sein Name ist Liebe« aufgelöst wird. Aus der handlungsinternen Sicht Calafs dürfte es hingegen so sein, dass er sich mit dem ersten Rätsel wirklich leicht tut und beim zweiten tatsächlich Gefahr läuft, zu versagen. Erst der Ausruf der in der Nähe stehenden Liù »È per l’amore« hilft ihm, die Lösung zu finden. Da es sich bei diesem kurzen Einwurf um den einzigen Satz Liùs in gesamten Akt handelt, muss er für Puccini an dieser Stelle eine Bedeutung gehabt haben. Offenbar soll noch einmal unterstrichen werden, wie sehr Calàf erst durch die Liebe, die Liù ausstrahlt, sein Glück findet. Das lange Zögern bei der dritten Frage halte ich eher für ein Taktieren Calafs. Er möchte Turandot einfach zappeln lassen. Interessant ist – Claus Guth hat diesen Punkt bei den Proben betont –, dass alle drei Rätsel mit Turandot selbst zu tun haben, also drei Aspekte ihrer eigenen Situation benennen.

al Wie fest ist das Fundament dieser Liebe zwischen Calaf und Turandot?

jk Das wird die Zeit zeigen. Turandot ist eine verletzte und traumatisierte Seele und da gibt es nie eine Garantie dafür, dass es ein normales Leben geben wird. Aber mit Calaf hat sie jedenfalls die größten Chancen darauf.

al Was hebt die Rolle des Calaf für den Tenor auf die gewaltige Herausforderungsstufe eines Otello?


jk Es liegt nicht an der Länge der Partie, die ist nicht so extrem. Aber man hat auf der einen Seite eine sehr dicke Orchestrierung und auf der anderen eine insgesamt sehr hoch liegende Tessitura mit mehreren Spitzentönen. Diese Kombination ist einfach herausfordernd und Respekt gebietend. Wenn zum Beispiel der Chor in voller Lautstärke singt und das Orchester dazu im Fortissimo spielt, muss man wirklich einen Turbo einschalten, um nicht verloren zu gehen. Dazu kommt diese bei Puccini vorherrschende Eigentümlichkeit, dass man von den Wellen dieser Musik mitgerissen wird und emotional ohne jedes Sparen mitgehen möchte. In der Tosca geschieht das allerdings nur drei, viermal, hier in der Turandot aber praktisch durchgehend. Würde man Otello oder Calaf wie »Hänschen klein« singen, wären die Herausforderungen in den Partien kaum der Rede wert. Da aber in beiden Fällen extreme Emotionen unentwegt von der Musik aufgeladen und vokal entsprechend weitergegeben werden müssen, sieht die Sache anders aus.

al Es gibt populärere und weniger populärere Puccini-Opern. Warum ist Turandot so beliebt beim Publikum und eine Fanciulla del West weniger?

jk Ein lieber Freund und Musiker hat mich einmal gefragt, was denn so Besonderes an der »Nessun dorma«-Arie sei: In Wahrheit wäre ja die Melodie äußerst simpel gestrickt und trotzdem bekäme jede und jeder beim Hören dieses Schlagers eine Gänsehaut. Aber genau darin liegt eben die Meisterschaft Puccinis, dass er es fertiggebracht hat, mit aller scheinbaren Einfachheit ein auf drei Minuten komprimiertes, so faszinierendes Stück zu schaffen. Und obwohl die Oper Turandot, was z.B. die Stimmführung des Orchesters betrifft, durchaus ein Schritt zurück war verglichen mit den von Puccini unmittelbar davor komponierten Opern, ist das Werk insgesamt dennoch eine Art Essenz eines Altmeisters, der aus dem Vollen seiner Erfahrungen geschöpft hat. Ähnlich wie Verdi im Otello und noch mehr im Falstaff. Nichtsdestotrotz finde ich es sehr schade, dass überaus phänomenale Werke wie die von Ihnen erwähnte Fanciulla, aber auch Manon Lescaut deutlich seltener gespielt werden.

al Anders als heute, hat Puccini früher die Kunstwelt doch recht entzweit: Mahler beispielsweise lehnte Puccini ab, Korngold hingegen bewundert ihn. Warum ist Puccini mehr als der »Verdi des kleinen Mannes«, wie ihn Tucholsky herablassend bezeichnet hat?

jk Viele im Publikum mussten sich daran gewöhnen, dass Emotionen durch Musik so unmittelbar und intensiv transportiert werden. Es hat die Leute irritiert, dass man ab dem Verismo nicht mehr mit einem feinen Lächeln oder einem leicht feuchten Auge davonkommt, sondern von den Gefühlen regelrecht überschwemmt wird. Und Puccini ist darüber hinaus das letzte Bindeglied vor der Operette. Ein Lehár hat zum Beispiel exakt so instrumentiert wie Puccini, wenn man etwa an die ersten Geigen denkt, die regelmäßig die Melodie des Sängers verdoppeln. Das Puccini-Orchester klingt dementsprechend auch ohne Sänger großartig – Giuseppe Verdi hat Ähnliches bewusst vermieden. Das ändert aber nichts am Genie Puccinis und an der Qualität seiner Partituren.






 
 
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