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Max Joseph, Magazin der Bayerischen Staatsoper, X |
Interview Tobias Haberl und Malte Krasting, Das Gespräch wurde aufgezeichnet von Thomas Voigt |
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Mitleid oder nicht?
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Dies war eine der Schlüsselfragen für Regisseurin Amélie Niermeyer und Tenor Jonas Kaufmann im Gespräch zur Neuinszenierung von Giuseppe Verdis Otello. Über Außenseiter, Fremde und ein durch und durch aufrüttelndes Werk. |
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MAX JOSEPH Ein Schlüsselwort in
Verdis Otello lautet „Moro", der Mohr. Wie übersetzt man das optisch und
szenisch? Mit schwarzer Schminke ist man ja über die Jahre
zurückhaltender geworden.
AMÈLIE NIERNEYER
Zurückhaltender? Das ist milde ausgedrückt. Ich bin entsetzt, dass es heute
noch immer Inszenierungen gibt, die Otello unreflektiert ethnisch schwarz
schminken und dabei vergessen, dass wir diese Praxis historisch längst als
latenten Rassismus dechiffriert haben. In diese Falle darf man heute
natürlich nicht tappen. Und in dem Stück geht es ja nicht um Hautfarbe oder
Kleidung, sondern um den Status eines Außenseiters. Über die Interaktion
zwischen Otello und seinem Umfeld sollte man das heute erkennbar machen.
Dafür braucht es nun wirklich keine schwarze Schminke oder exotische
Gewänder. Zunächst ist er ein absoluter Fachmann in strategischer
Kriegsführung und darin ein wahnsinniger Nord. Doch zugleich sehen wir ihn
unabhängig von seiner Hautfarbe als Kriegsheimkehrer, der Schreckliches
erlebt hat und allein dadurch Schwierigkeiten mit seinem Umfeld hat.
JONAS KAUFMANN Die Frage „Schwarz schminken als Aida und
Otello?" entfacht im Zeitalter der political correctness natürlich mehr
Diskussionen denn je. Vor meiner ersten Produktion als Otello, vergangenes
Jahr in London, wurde ich immer wieder darauf angesprochen. Dazu muss man
wissen, dass man mit dem Begriff moorish people in England lange Zeit nicht
nur Schwarze meinte, sondern alle Ansländer, egal welcher Herkunft und
Hautfarbe. Das waren schlichtweg die Fremden. Im deutschsprachigen Raum
hingegen bezeichnete man lange Zeit einen Schwarzen als Mohren, siehe Die
Zauberflöte: „Der böse Mohr verlangte Liebe".
AN Was
die Sache in Bezug auf Otello aber nicht einfacher macht. Es rekurriert auf
das Klischee des Fremden, des Wilden, der seine Emotionen nicht im Griff
hat, der eifersüchtig ist, ausrastet und aus Eifersucht mordet. JK Aber die
Herkunft ist nicht ganz egal. Dadurch, dass er aus dem arabischen Raum
kommt, hat er noch mehr den Nimbus des „andere Länder, andere Sitten und
Rechte". Explizit: Wenn seine Frau ihn betrogen hat, hat er in seiner Kultur
das Recht, sie umzubringen; da gibt's keinen Richter und keinen Verteidiger.
Auch wenn er in der „westlichen Gesellschaft" Fuß gefasst und Karriere
gemacht hat, ist Otello im Rechtssystem seiner Kultur verwurzelt und sieht
sich somit völlig im Recht. Wenn er Desdemona tötet, ist er sich keiner
Schuld bewusst, er ist sogar stolz drauf. Da frage ich mich: Besteht das
Skandalöse des Stücks darin, dass er seine Frau umbringt, weil er sich auf
die Rechte seiner Kultur beruft - oder besteht der Skandal nicht eigentlich
darin, dass die Gesellschaft ihn so weit bringt, dass dieser „Ehrenmord" für
ihn der einzige logische Ausweg ist?
MJ Ehrenmord
nach fehlgeschlagener Integration - der Stoff könnte ja aktueller nicht
sein.
AN Extrem aktuell, auch mit Blick auf den
sozialen Druck in Männergesellschaften. Denn es ist ja nicht nur Jago, der
Otello mit seiner Intrige zum Ehrenmord treibt, sondern es ist eine
Männergesellschaft, die Eifersucht und Gewalt schürt, siehe die Trinkszene
im ersten Akt. Und der Gedanke, angesichts dieser Gesellschaft, zu der
Otello ja gehören möchte, als betrogener Ehemann dazustehen, ist ihm
unerträglich.
JK Als Außenseiter steht er doppelt
unter Druck. Er hat sich ungeheuer angestrengt, als Feldherr wie auch privat
Teil der Gesellschaft zu werden, der er angehören möchte. Und sobald er auch
nur im Verdacht steht, von seiner Frau betrogen zu werden, reduziert man ihn
auf den Fremden und Wilden.
MJ Was sind für Sie die
unerhörten, schwer erträglichen Momente in diesem Stück?
JK
Der brutalste Moment ist für mich, wenn Jago und Otello nach dem angeblichen
Beweis mit dem Taschentuch und vor Ankunft des Gesandten besprechen, wie
Otello Desdemona umbringen soll. Wie zwei Metzger, die sich beraten, wo sie
den Schnitt ansetzen, damit das Fleisch am besten schmeckt.
AN Für mich ist es schwer erträglich, dass Verdi musikalisch auf
den ersten Blick mit Otello sympathisiert, indem er das Mitleid des
Publikums am Ende ganz empathisch auf ihn lenkt. Natürlich ist es tragisch,
dass einer, der gesellschaftlich nicht integriert ist, erst einen Mord und
dann Selbstmord begeht - aber Mitleid habe ich da nur bedingt. Verdi wollte
die Situation auch nicht verharmlosen. In einer Situation emotional
empathisch geführt werden, heißt noch lange nicht, Verständnis für diese
grauenvolle Tat zu entwickeln.
JK Naja, wenn einer
aus dem Status von Erfolg und Glück in diesen Strudel von Eifersucht und
Wahnsinn gerät, gehen wir Zuschauer schon empathisch mit. Deshalb linde ich
es auch sehr wichtig, wie die Figur des Jago angelegt ist. Wenn ich einen
typischen Bösewicht neben mir habe, dann ist die Reaktion des Publikums:
Warum ist Otello bloß so blöd und vertraut diesem Typen? Wenn es aber der
best buddy ist und dazu ein Saubermann, dem man diese Intrige überhaupt
nicht zutrauen würde, dann funktioniert das Stück. Und dann hat man auch
Mitleid mit Otello.
AN Mitleid ist seit Aristoteles'
Poetik ein viel diskutiertes Feld auf dem Theater. Wenn die Emotion den
Verstand in den Hintergrund drängt, ist das sogar gefährlich. Und warum
sollen sich Gefühl und Verstand überhaupt widersprechen? Will man wirklich,
dass das Publikum nur Mitleid mit ihm hat?
JK Ja,
absolut!
AN Aber ich finde schon, dass Otello so
brutal agiert, dass man sich als Zuschauer in den Momenten, in denen er
Desdemona demütigt, von ihm distanzieren kann Genau so, wie man sich von
Typen distanziert, die ihre Frauen schlagen und quälen, auch wenn sie danach
anfangen zu heulen, ihr Verhalten bedauern und sich entschuldigen - um es
dann kurze Zeit später wieder zu tun. Diesen Mechanismus eines zutiefst
gestörten Verhaltens haben Shakespeare und Verdi sehr gut beobachtet. Nur
sollte das Verständnis und Mitgefiihl des Publikums nicht so weit gehen,
dass am Ende alle sagen: o je, der arme Otello. Wer mir in dieser Szene
wirklich leid tut, ist das Opfer, nämlich Desdemona.
JK
Dass sich bei vielen Zuschauern die Empathie für Desdemona in Grenzen hält,
liegt aber auch daran, wie diese Figur konzipiert ist Man möchte ihr ja
dauernd zurufen: Begreifst du denn nicht, dass du das Opfer einer Intrige
bist? Und merkst du denn nicht, dass das schlimmste Reizwort für Otello
„Cassio" ist? Musst du diesen Knopf immer und immer wieder drücken - und
dich dann noch wundern, wenn er ausrastet? Das ist durchaus eine Parallele
zu den Frauen, die immer wieder zu den Typen zurückkehren, von denen sie
geschlagen werden.
AN Ja, man fragt sich bei ihr
oft, warum sie nicht viel früher aufhört, bezüglich Cassio zu insistieren.
Es darf gar nicht erst der Eindruck entstehen, sie sei dumm oder naiv und
selbst schuld, dass Otello sie so schlecht behandelt. Das ist nämlich
mitnichten der Fall, und es wäre ein grobes Missverständnis. Sie ist eine
sehr reflektierte und selbstbestimmte Frau und hat schließlich aus freiem
Willen den Außenseiter geheiratet. Dennoch sehe ich auch bei Desdemona eine
Persönlichkeitsstörung: Vielleicht aus Trotz, ganz sicher aber aus einem
widersprüchlichen Hang zur Selbstzerstörung will sie beweisen, dass Otello
durch sie ein besserer Mensch werden kann Das kann aber keine Liebe leisten.
Dass sie damit dennoch immer weitermacht, obwohl sie merkt, dass Otello nur
wütender wird, das macht eben ihre Persönlichkeitsstörung aus.
MJ Gibt es im Verhältnis zwischen Otello und Desdemona von
vornherein ein Ungleichgewicht?
JK Bei Verdi ja.
Dieses sogenannte „Liebesduett" zum Ende des ersten Aktes zeigt das ja ganz
deutlich. Er sagt: „Du liebst mich wegen meiner Erfolge, und ich dich wegen
deiner Mildtätigkeit" - so würde ich das „pietä" hier interpretieren. Er
liebt sie für ihre Güte, für ihr „soziales Engagement", würde man heute
sagen. Dass sie dafür auch vom Volk geliebt wird, erfährt man ja spätestens
mit der Huldigungsszene im zweiten Akt.
AN In
Shakespeares Schauspiel wird das noch deutlicher: Da wird erzählt, dass
Desdemona dem Einfluss ihres Vaters entfliehen will und dafür einen starken
Mann braucht. Otello ist für sie der große Kriegsheld und sie liebt ihn,
weil sie spürt, dass er schon viel Schlimmes erlebt hat. Vom gestörten, auch
kriegstraumatisierten Mann fühlt sie sich genauso angezogen wie von dem
großen Helden. Er wiederum verspricht sich durch die Heirat mit ihr, die aus
„gutem Hause" kommt, den gesellschaftlichen Aufstieg. Auch das wird im
Schauspiel deutlicher. Die wunderschöne Musik, die Verdi am Ende des ersten
Aktes geschrieben hat, lässt eine tiefe Liebe vermuten, aber in Musik und
Text gibt es schon Reibungen, die den Konflikt nicht übertünchen.
MJ Es ist ihre Hochzeitsnacht, und beide stehen enorm unter
dem Druck, dass die Beziehung hält. Desdemona hat für Otello sogar ihre
Familie verlassen. Ist sie die komplexere Persönlichkeit?
AN
Ich finde beide extrem komplex. Das Publikum konzentriert sich diesbezüglich
aber mehr auf Otello, während Desdemona leicht auf das Klischee der
Blauäugigen, Naiven reduziert wird. Das finde ich zu klein gedacht. Allein,
dass sie sich politisch einmischt und zu Otello sagt, Cassio sei ein fähiger
Mann, zeugt doch von Stärke und Selbstbewusstsein gerade in der damaligen
Zeit. Erst im Verlauf des Stücks erkennt man, dass tatsächlich beide auf
Selbstzerstörung programmiert sind.
MJ Ist das der
Grund, warum beide Opfer einer relativ leicht zu durchschauenden Intrige
werden?
AN Absolut! Bei Otello ist es die
Unfähigkeit, über seine Unsicherheit und Eifersucht mit Desdemona zu
sprechen. Und ihre manische Beharrlichkeit macht es ihm nicht leichter. In
ihrer Hoffnung, sein Misstrauen sei nicht weiter gefährlich, unterschätzt
sie seine Verletzungen und die daraus resultierende Brutalität.
MJ Wie kann es sein, dass Jago, wenn auch best buddy, so
leichtes Spiel hat mit Otello?
JK Durch Otellos
Unsicherheit und Unerfahrenheit in vielschichtigen menschlichen Beziehungen.
Das ist der perfekte Nährboden für Zweifel, und das macht ihn zum leichten
Opfer für Jago. Als Otello das erste Mal mit Desdemona über seinen Verdacht
redet, ist es bereits zu spät. Da hat er das Kissen, mit dem er sie
ersticken wird, schon in der Hand. Da ist nichts mehr rückgängig zu machen,
wie bei einem Torpedo, den man losgelassen hat.
MJ
Sie haben in einem Interview gesagt, Otello sei die Rolle, aus der Sie am
schwierigsten wieder herausschlüpfen können.
JK
Normalerweise finde ich aus den Figuren gut wieder heraus, spätestens beim
Applaus. Aber beim Otello war das wirklich schwierig, und das hat mich sehr
nachdenklich gemacht. Dieser rasende Wahnsinn bis hin zum Mord ... und wenn
er sich dann noch damit brüstet, sie umgebracht zu haben - das ist doch
etwas anderes als ein Don José, den unerwiderte Liebe und nackte
Verzweiflung so weit treiben, dass er Carmen ersticht. Otello ist nach dem
Mord absolut überzeugt, dass er im Recht ist. Umso größer der Schock, als er
erfährt, dass sie unschuldig war. Das trifft ihn wie ein Hammer. Und deshalb
habe ich auch Mitleid mit ihm.
AN Ich hadere da.
Wenn argumentiert wird, jemand hatte eine schwere Kindheit, kommt ans einem
anderen Kulturkreis et cetera, dann kann das leicht wie eine Verharmlosung
der Tat wirken. Diese Umstände muss man reflektieren. Die Tat bleibt die
Tat. Das Bestialische des Mordes und den Todeskampf Desdemonas darf man
nicht verharmlosen.
MJ Jago ist ein klassischer
Populist. Er verbreitet Fake News, zettelt einen Aufruhr an, den er dann
beschwichtigt ... sehen Sie da Parallelen zu aktuellen politischen
Verhältnissen?
AN Durchaus. Er manipuliert ja nicht
nur Otello, sondern sein ganzes Umfeld. Er schafft es innerhalb kürzester
Zeit, die Leute gegeneinander aufzuhetzen.
JK Eine
unglaublich starke Rolle. Als Schauspieler würde der mich mehr interessieren
als die Titelpartie.
AN Nur leider sieht man bei ihm
schwer die Fallhöhe. Er scheint immer auf der Gewinnerseite zu sein. Auch
bei diesem Dialog mit Cassio über Bianca. Ein falsches Wort von Cassio, und
die ganze Geschichte würde auffliegen. Jago steht da enorm unter Druck. Und
genau das muss man zeigen.
JK Er steht schon unter
Druck, aber es ist ein Spiel mit dem Feuer, das ihm Spaß macht. Und nochmal
die Frage: Warum macht er das? Weil er in Desdemona verliebt ist? Weil er
den Posten von Otello haben will? So richtig klar wird das nicht.
AN Er fühlt sich bei der Beförderung Cassios zum Hauptmann
von Otello übergangen, muss also karrieremäßig eine Niederlage einstecken.
Aber das ist nur der Auslöser dir die aktuelle Intrige. Seinem „Credo" zu
Beginn des zweiten Aktes zufolge hat er grundsätzlich eine Lust am Bösen, am
Zerstörerischen. Seine brutal nihilistische Weltanschauung trifft auf zwei
Menschen, die noch immer idealistisch denken. Das ist ein Konflikt, der das
Dreieck zwischen Desdemona, Otello und Jago so unglaublich spannend macht.
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