Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Mai/Juni 2016
Die Fragen stellte Joachim Reiber.
 
Das große Ganze
Jonas Kaufmann und „Das Lied von der Erde"
 
Mit Mahlers „Lied von der Erde“ sucht Jonas Kaufmann eine neue, große künstlerische Herausforderung. Im Musikverein singt er – erstmals – die Tenor- und die Baritonlieder. Den „Musikfreunden“ gab er dazu ein Interview. Kaufmann, Mahler und der Reiz, aufs Ganze zu gehen.

Gustav Mahler hat „Das Lied von der Erde“ als „Symphonie für Tenor, Alt (oder Bariton) und Orchester“ veröffentlicht. Er scheint also an zwei verschiedene Stimmen gedacht zu haben. Sie singen nun das ganze Werk, die Tenor- wie die Baritonlieder. Was reizt Sie daran?

Bei Aufführungen habe ich mich öfters gefragt, warum man für die sechs Lieder eigentlich zwei Sänger braucht. Natürlich gibt es bei den Stücken sehr starke Kontraste und auch deutliche
Unterschiede in der Stimmlage; doch bei allen Unterschieden den großen Bogen von Anfang bis Ende zu spannen – das ist es, was mich so ungemein reizt. Außerdem liebe ich alle Lieder so sehr, dass ich bei Aufführungen oft eifersüchtig den Bariton- und Mezzokollegen gelauscht habe. Insofern kann ich es kaum abwarten, sämtliche Lieder zu singen. Dass ich das im Wiener Musikverein mit den Philharmonikern tun darf, empfinde ich als große Herausforderung und als riesige Ehre.

Wie stark empfinden Sie den Unterschied zwischen den Tenor- und den Baritonliedern – technisch und stilistisch?

Sieht man vom schnellen Mittelteil in „Von der Schönheit“ einmal ab, haben die Baritonlieder stilistisch eher introvertierten Charakter, während die Tenorlieder weitgehend extrovertiert sind. Technisch sehe ich den Unterschied vor allem darin, dass man bei den Tenorliedern acht geben muss, dass man sich in der Höhe nicht „festsingt“; bei den Baritonliedern kommt es viel mehr auf das Strömen der Stimme, auf den großen musikalischen Bogen an. Und wenn ich daran denke, dass Renata Scotto meine Stimme mit einem Cello verglichen hat, dann bestärkt mich das in meiner Einschätzung, dass ich für diese Lieder ein gewisses Talent habe.

Wenn man allein ihre bisherigen Auftritte im Wiener Musikverein ansieht, dann lässt sich schon daraus eine besondere Affinität zu Gustav Mahler ablesen. Was spricht Sie an der Musik Mahlers besonders an?

Dieser unglaubliche Sog, der mich oft an Wagners „Tristan“ erinnert: Man kann nicht davon lassen, man will immer noch mehr.

Mahler hat offenbar länger um den Untertitel für das „Lied von der Erde“ gerungen. Schließlich sprach er von einer „Symphonie“. Welche Konsequenz hat das für Sie als Sänger?

Es sind keine Lieder mit Orchesterbegleitung, sondern Dialoge zwischen Orchester und Sänger. Man baut gemeinsam an einem großen Haus, gleichberechtigt, doch ohne strikte Rollenverteilung. Was der Sänger angefangen hat, wird oft vom Orchester weitergeführt und umgekehrt.

Unter der Leitung von Daniele Gatti haben Sie u. a. schon den „Parsifal“ an der Met gesungen.

Das war eine wunderbare Erfahrung, an die ich sehr oft zurückdenke. Gatti liebt dieses Ausloten der langen Phrasen genauso wie ich. Darum denke ich, dass wir auch beim „Lied von der Erde“ an einem Strang ziehen werden. Und dann noch mit den Wiener Philharmonikern, schöner kann’s ja gar nicht sein!

Im Wiener Musikverein hat es immer wieder besondere Aufführungen des „Lieds von der Erde“ gegeben. Bruno Walter etwa interpretierte es hier mit den Wiener Philharmonikern, Julius Patzak und Kathleen Ferrier. Fritz Wunderlich sang es hier, Christa Ludwig, Dietrich Fischer-Dieskau ... Gibt es unter diesen Vorgängern welche, die Sie ganz besonders schätzen?

Die Aufnahme mit Fritz Wunderlich, Christa Ludwig und Otto Klemperer am Pult. Das war die erste Version, die ich von dem Stück überhaupt gehört habe, und sie ist nach all den Jahren nach wie vor mein Favorit.

Über das „Lied von Erde“ sagte Mahler, es sei „wohl das Persönlichste, was ich bis jetzt gemacht habe“. Was könnte, aus Ihrer Sicht als Mahler-Kenner und -Interpret, dieses
Persönlichste sein?


Nach meiner Einschätzung ist es vor allem „Trauerarbeit“. Während der Arbeit am „Lied von der Erde“ verstarb seine Tochter Maria Anna im Alter von vier Jahren an Diphterie. Dann sein
erzwungener Rücktritt als Direktor der Wiener Oper und schließlich die Diagnose einer schweren Herzkrankheit – vor diesem Hintergrund kann man gut nachvollziehen, warum das letzte Lied den Titel „Abschied“ trägt, einen Trauermarsch enthält und das Ende eines langen Leidenswegs schildert.

Ist es eigentlich wichtig für Sie als Interpret, um diese Dinge zu wissen? Sollte, ja muss man Komponistenbiographien studieren, um Werke schlüssig interpretieren zu können?

Für einen Musikologen ist das sicher wichtiger als für den Interpreten. Als Interpret versuche ich die Emotionen zum Klingen zu bringen, die aus der Musik sprechen. Da möchte ich nicht
mit erhobenem Zeigefinger signalisieren: „Hier geht’s um den Tod seiner Tochter!“, sondern mich fragen: Welche dunklen Seiten habe ich in meinem Leben gehabt, um diese Gefühle, die
in der Musik zum Ausdruck kommen, nachzuempfinden?

Demnach braucht solch ein Werk die emotionale Identifikation? Oder eher eine gewisse, durch Reflexion geschaffene Distanz?

Man muss nicht schwindsüchtig sein, um die Traviata darzustellen, aber man sollte als Interpret so viel erlebt haben, dass man eigene Erfahrungen verwenden kann, um große Emotionen so glaubhaft wie möglich darzustellen. Was natürlich nicht heißt, dass man sich bei bestimmten Situationen in Selbstmitleid wälzt. Aber man muss involviert sein, quasi auf den Wellen der Emotionen mitschwimmen, statt den Wellengang aus sicherer Distanz zu schildern.

Das zentrale Thema vom „Lied von der Erde“ ist die Vergänglichkeit. Wie gehen wir mit ihr um? Wie schlagen wir gerade aus dem Wissen um sie die Funken fürs Leben? Haben Sänger zu diesem Urthema des Menschseins einen besonders engen Zugang?

Natürlich ist „Vergänglichkeit“ für uns Sänger ein ganz besonderes Thema. Ich glaube, keine Kunst ist vergänglicher als die des Singens. Klar, durch Platten und Videos können wir dafür sorgen, dass von uns „etwas bleibt“. Aber es sind Moment-Aufnahmen, und das Besondere unserer Kunstform ist ja, dass sie jeden Abend neu kreiert werden muss und jeden Abend anders ist. Dieses gemeinsame Erleben am Abend ist ja etwas ganz anderes, als wenn man zu Hause immer wieder dieselbe Platte auflegt. Insofern hat die Vergänglichkeit auch etwas Positives – nämlich das Einmalige, Unwiederholbare.










 
 
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