Max Joseph, Magazin der Bayerischen Staatsoper, 2/2010
Interview: Thomas Voigt
Entspannt bleiben 
 
In der Fidelio-Inszenierung von Calixto Bieito singt Jonas Kaufmann den Florestan. Im Interview mit Thomas Voigt spricht er über sängerische Herausforderungen und seine Vorfreude auf die Arbeit mit dem spanischen Regisseur.

MAX JOSEPH (MJ): Mit dem Namen Bieito assoziiert man in der Opernwelt Folter, Blut und nacktes Fleisch. Haben Sie schon mit ihm gearbeitet?

Jonas Kaufmann (JK): Nein, aber natürlich habe ich immer wieder Berichte über seine Inszenierungen gelesen oder im Fernsehen gesehen, insofern bin ich sicher, dass es keine konventionelle Inszenierung wird.

MJ: Lieber Provokation als Konvention?

JK: Das möchte ich so pauschal nicht sagen, aber nach meinen Erfahrungen sind konventionelle Inszenierungen eher langweilig. Man möchte doch nicht die „Butterfly“ jahrzehntelang so sehen, wie man sie als Kind erlebt hat.

MJ: Eben das ist der Punkt: Wer seit Jahrzehnten in die Oper geht, will Abwechslung und neue Reize. Aber was macht man mit den Anfängern? Haben Kinder und andere Opern-Novizen nicht das Recht auf eine Inszenierung, bei der sie Werk, Handlung und Dialoge auf Anhieb verstehen, ohne dass man ihnen vorher das Regiekonzept erklären muß? Anders gefragt: Wären Sie damals, bei Ihrer ersten „Butterfly“ im Nationaltheater, genauso der Oper verfallen, wenn man die Handlung in den Vietnamkrieg verlegt hätte?

JK: Wenn die emotionalen Beziehungen zwischen den Figuren und das Verhältnis von Aktion und Musik gestimmt hätten – ganz sicher! Ich verstehe Ihre Bedenken, nur finde ich, dass es gerade das Merkmal einer guten Inszenierung ist, wenn sie beiden Gruppen das Essenzielle eines Stückes vermittelt, den Anfängern genauso wie denjenigen, die das Werk schon in zwanzig verschiedenen Inszenierungen gesehen haben. Das ist ja die große Herausforderung jeder Neuinszenierung: das Stück immer wieder neu zu „erfinden“! Und wenn der Regisseur kein Mann ist, der in erster Linie den Presserummel braucht, sondern ein ernsthafter Künstler mit großer Überzeugungskraft, dann wird man sich selbst nach anfänglichen Zweifeln sagen: „Ja, so muß es sein! Warum hat das noch keiner gezeigt?“ Um auf Bieito zurückzukommen: Er gehört offenbar zu den Regisseuren, bei denen die Inszenierung schon Monate vor der Premiere stattfindet – in den Köpfen derLeute,die einen Skandal erwarten. Ich bin schon gefragt worden, ob ich denn als Florestan auch nackt auftreten würde. Darüber mache ich mir doch jetzt keine Gedanken!

MJ: Mit neuen Sichtweisen auf „Fidelio“ sind Sie ja vertraut.

JK: Wohl wahr! Die Stuttgarter „Fidelio“-Inszenierung von Martin Kusej zähle ich zu meinen stärksten Musiktheatererlebnissen. Da fand die Befreiung des Florestan nur in der Fantasie von Leonore statt.

MJ: Damals, 1998 in Stuttgart, sangen Sie noch den Jaquino.

JK: Stimmt – und Kusej hatte die Rolle sehr aufgewertet. Statt des kleinen Angestellten, den man üblicherweise zu sehen bekommt, zeigt er einen brutalen Machtmenschen.

MJ: Knapp drei Jahre später wechselten sie zum Florestan. Hat Sie die Rolle gereizt oder war es eher die musikalisch-stimmliche Herausforderung der Soloszene, die ja selbst von gestandenen Heldentenören gefürchtet wird?

JK: Es war sicher die große Szene, die mich gereizt hat, mit diesem heiklen Schlussteil, an dem sich schon viele Tenöre versungen haben. Denn als Figur ist Florestan ja eher eindimensional, nicht annähernd so interessant wie etwa ein Don José in „Carmen“. Helmut Rilling war der Erste, der mir die Rolle angeboten hat für eine Serie von konzertanten Aufführungen beim Rheingau Musik Festival, in der Stuttgarter Liederhalle und beim Beethovenfest in Bonn. Und es lief prima. Zu meiner großen Freude wurde meine Stimme an diesen heiklen Stellen nicht enger, sondern ging immer mehr auf.

MJ: Florestans ekstatische Vision vom rettenden Engel: „Der führt mich zur Freiheit, ins himmlische Reich!“, diese höllisch schwere Phrase, wird gern als Beweis dafür zitiert, dass Beethoven nicht wußte, wie man für Sänger komponiert. Andererseits läßt sie sich auch dahingehend interpretieren, dass er bewußt den Sänger an die Grenzen des Singbaren getrieben hat: Die Extremsituation des Gefangenen verlangt nach einer Extremsituation beim Singen.

JK: Wohl eher Letzteres, denn wenn man sich seine „Missa Solemnis“ ansieht, so ist auch hier das Mittel der „Verzweiflung durch Unsingbarkeit“ ganz deutlich Teil des Konzepts, also beispielsweise beim sich immer höher schraubenden „Et vitam venturi“ im Chorsopran. Oder nehmen Sie die Arie der Leonore in der Urfassung: Das ist ja dramatische Koloratur vom Allerschwierigsten! Und wie oft gibt es Superfrauen, die das singen können? Die Änderungen, die Beethoven an dieser Arie vorgenommen hat, sind eindeutig der Theaterpraxis geschuldet!

MJ: „Leonore“ oder „Fidelio“ –welche Fassung ist Ihnen lieber?

JK: „Fidelio“ ist in jeder Hinsicht stärker!

MJ: Zurück zum „himmlischen Reich‘“: Wie schafft man es, diese Phrase zu singen, ohne sich wehzutun?

JK: Für mich gibt es nur einen Weg: keine Panik bekommen, sondern möglichst entspannt bleiben und ja nicht vorauseilen, um schnell drüber wegzukommen, das bewirkt genau das Gegenteil, denn so werden die Atempausen noch kürzer.

MJ: Nun könnte man einwenden: Florestan ist ja nur noch ein Häufchen Elend, warum sollte er da nicht mit letzter Kraft die Töne herauspressen?

JK: Weil es eben kein Realismus ist, sondern Opernrealität: Nicht der körperliche Verfall soll hier zum Ausdruck kommen, sondern der Seelenzustand des Verzweifelten, seine ekstatische Vision von Rettung und Befreiung. Genauso ist der erste Ton dieser Szene, das aus dem Nichts kommende, immer stärker und dringlicher werdende „Gott!“, der Aufschrei der gequälten Seele – aber eben kein naturalistischer, sondern ein musikalischer „Schrei“, der größte stimmlich-technische Kontrolle erfordert. Ich weiß nicht, wie oft ich an diesem Crescendo gearbeitet habe. Jedenfalls hat es lange gedauert, bis es so klang, wie ich es mir vorgestellt haben. Nur sollte das Publikum bei solchen Phrasen nicht denken: „Toll, wie der das kann!“,sondern immer mit der dargestellten Person fühlen. Und das ist die große Herausforderung in unserem Beruf: ganz in eine Figur hineinzuschlüpfen und trotzdem immer die Kontrolle darüber zu haben, was man als Sänger und Darsteller tut. Karajan nannte das „kontrollierte Exstase“.

MJ: Vor Ihrem ersten Lohengrin in München haben Sie den Alfredo in „La Traviata“ gesungen, vor Ihrem Bayreuth-Debüt in derselben Rolle waren Sie hier als Don José und Cavaradossi zu hören, vor Ihrem Florestan werden Sie in London als Maurizio in „Adriana Lecouvreur“ auftreten. Offenbar sind solche Abwechslungen wesentlicher Bestandteil Ihrer stimmlichen Fitness.

JK: Ganz sicher. Wie das Beispiel Domingo zeigt, hält man sich die Stimme auf diese Art viel länger geschmeidig. Dadurch kann ich auch immer noch Lieder singen und die feinen Nuancen umsetzen. Und auch musikalisch sind solche Wechselbäder sinnvoll. Zum Beispiel hatte ich das Gefühl, dass mir die „Tosca“-Aufführungen in München geholfen haben, den Lohengrin in Bayreuth wieder neu anzugehen. Überhaupt glaube ich, dass es einem Sänger nur nützen kann, vor einer Wagnerpartie italienisches Repertoire zu singen. Denn dann wird einem wieder klar, was Wagner eigentlich wollte: deutsche Oper mit italienischem Legato. Und immer wieder piano und pianissimo!

MJ: Weiß man das heute noch zu schätzen?

JK: Ich denke schon, zumindest bei einem Großteil des Publikums. Nehmen Sie zum Beispiel Lohengrins Abschied im letzten Akt: „Mein lieber Schwan! Ach, diese letzte, traur’ge Fahrt, wie gern hätt‘ ich sie dir erspart!“ Nach der Premiere in Bayreuth sagte man mir, bei dieser Stelle sei eine Emotionswelle durchs Publikum gegangen, die fast körperlich zu spüren war. Aber es hat während der Proben unter den musikalischen Beratern in Bayreuth auch kritische Stimmen gegeben, die sagten: „Viel zu leise und immer dieses ewige Legato – wir brauchen mehr Text!“ Ich selbst war ja erstaunt, als ich den Lohengrin studierte, wie oft Wagner piano notiert hat, zum Beispiel bei „Nie sollst du mich befragen“! Und das ist ja gerade das Außergewöhnliche: dass ein Superheld, der mit einer riesigen Chorszene angekündigt wird, zur Begrüßung keine heldischen Töne losläßt, sondern unheimlich zärtlich mit dem Schwan spricht. Das ist für mich ein deutliches Zeichen, dass Wagner gar nicht wollte, dass Lohengrin von vorne bis hinten den Helden mimt.

MJ: Seit Ihrem Lohengrin-Debüt sind Sie regelmäßig in München zu hören, aber es gab einige Jahre, wo man den Eindruck haben mußte: Offenbar gilt der Prophet nichts in der eigenen Stadt.

JK: Tja, das war für mich ziemlich bitter. Ich meine, nach den ersten großen Erfolgen in Stuttgart wäre es naheliegend gewesen, mich öfter nach München zu holen. Aber ich habe in den Jahren zwischen 1998 und meinem Rollendebüt als Lohengrin bei den Opernfestspielen 2009 ganze vier Aufführungen an der Bayerischen Staatsoper gesungen.

MJ: Sie sind halt kein Händel-Spezialist.

JK: Gut, aber nun gab es zwischen den Händel-Opern hier immer noch Mozart, Verdi und Puccini. Warum ich da nicht ins Konzept paßte, weiß ich bis heute nicht. Aber Schwamm drüber! Ich freue mich sehr, dass sich die Zeiten geändert haben und dass ich seit letztem Jahr auch regelmäßig in München singen darf. München ist halt meine Stadt, ich bin hier aufgewachsen, hab hier als Kind im Chor gesungen und hier begann mein Opernleben. Hier hab ich als Knirps meine erste Vorstellung gesehen, eben besagte „Butterfly“, das war mein Türöffner zur großen Zauberwelt der Oper. Seitdem habe ich davon geträumt, eines Tages mal selber auf der Bühne des Nationaltheaters zu stehen. Meine ersten Bühnenschritte machte ich dann im Extrachor des Gärtnerplatztheaters. Meine Gesangsausbildung, mein Studium, meine gesamte „musikalische Sozialisation“ fand in München statt. Insofern ist die Bayerische Staatsoper für mich natürlich nicht ein Haus von vielen, sondern mein musikalisches Zuhause. Hier singen zu dürfen, ist für mich immer wieder ein ganz besonderes Erlebnis.

MJ: Können Sie heute noch eine Oper mit Kinderaugen sehen?

JK: Ja und nein. Nein deshalb, weil man irgendwann in jedem Bereich seine Unschuld verliert, so auch als Zuschauer in der Oper: Man kann ja nicht alle Erfahrungswerte, all die Erinnerungen an gute und schlechte Aufführungen einfach ausblenden, sobald der Vorhang hochgeht. Und ja deshalb, weil ich es auch heute noch erlebe, dass mich eine Aufführung so fasziniert, dass ich einfach mit großen Kinderaugen dasitze und mich von der wunderbaren Welt der Oper verzaubern lasse. Passiert zwar selten, aber es passiert nach wie vor.

MJ: Wie erleben Ihre Kinder die Oper?

JK: Wenn sie überhaupt damit konfrontiert werden, dann meistens positiv. Gut finde ich, dass es durch CD und DVD möglich ist, Kinder schrittweise an die Oper heranzuführen. So werden sie nicht überfordert und ihre Neugier bleibt erhalten. Ansonsten versuchen wir, die Kinder nur in altersgemäße Produktionen mitzunehmen. Und wenn sie dann bereits mit der Handlung und der Musik vertraut sind, ist ihre Bereitschaft zum aufmerksamen Zuhören auch viel größer.

MJ: Ist Kunst noch ein Ort der Freiheit?

JK: Ich hoffe doch! Denn welchen Sinn hätte all das Theater, wenn es nicht in jeder Aufführung mindestens einen Menschen im Publikum gäbe, der sich nach der Vorstellung anders fühlt als vorher, der die schönen Künste nicht nur als angenehme Unterhaltung empfindet, sondern als Ausdruck von Hoffnung und Freiheit inmitten einer Welt von Zwängen – und das nicht nur bei Befreiungsopern wie „Fidelio“. Wenn bei einer Aufführung alles stimmt, kann sie immer noch diese befreiende Kraft haben, die die alten Griechen Katharsis nannten, „Reinigung der Seele“. Ein hehres Ziel, nach dem wohl jeder Künstler strebt.

 

 






 
 
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