Auch wenn sein privates Domizil in Zürich angesiedelt
ist, die „wirkliche Heimat“ des gebürtigen Münchner Tenors Jonas Kaufmann
sind die großen Opernbühnen der Welt: ob das Royal Opera House Covent Garden
in London, die Mailänder Scala oder die Metropolitan Opera in NewYork, ob
die Lyric Opera in Chicago oder die großen Opernhäuser von Paris, Brüssel,
Rom, Wien, München, Hamburg, Stuttgart, Berlin und natürlich die
Festspielbühnen von Salzburg und Edinburgh. Seit er 2001 vom Opernhaus
Zürich engagiert wurde, ging seine Karriere steil bergauf. Heute gilt Jonas
Kaufmann vielen als «größter Hoffnungsträger der deutschen Klassikszene“ und
„neuer deutscher Star-Tenor“, sympathischerweise ohne jedwede
„Starallüren“.
Adelbert Reif Herr Kaufmann, wann reifte in
Ihnen der Plan, Sänger zu werden?
Jonas Kaufmann Mein Singen hat keine
kontinuierliche Geschichte. Als Kind sang ich einfach, weil es mir Spaß
machte. Ich war Mitglied in einem Kinderchor und sang mit 14 oder 15 Jahren
im Extrachor des Theaters am Gärtnerplatz. Aber Sänger zu werden stand
ernsthaft nicht auf meinem Programm.
AR Dennoch ergriffen Sie diesen Beruf...
JK Mein Vater vertrat die Meinung, Singen sei
doch eine eher brotlose Kunst, und ich solle etwas „Vernünftiges“ lernen. So
begann ich, Mathematik zu studieren, merkte aber bald, dass mir das viel zu
trocken und theoretisch war. Nachdem ich von meinem Großvater finanzierte
Gesangsstunden nahm, empfahl mir mein Lehrer eines Tages, die
Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule zu versuchen. Ich folgte seinem Rat
und wurde aufgenommen. Die endgültige Entscheidung fiel dann mit Mozarts
„Zauberflöte“ die wir konzertant mit Colin Davis aufführten. Das bereitete
mir eine so ungeheure Freude, dass ich den Entschluss fasste, dabei zu
bleiben, egal, was immer auch passiert.
AR Wer waren damals Ihre Lieblingssänger?
JK Meine Familie hörte vor allem deutsche
Sänger, und entsprechend stand die alte deutsche Sängergeneration auch im
Vordergrund meines Interesses: Peter Anders, Josef Traxel, Rudolf Schock und
vor allem Fritz Wunderlich. Natürlich vermochte ich damals noch nicht die
„Technik“ dieser Sänger zu beurteilen. Aber ich empfand sehr tief das
Berührende ihres Gesangs, wie viel Mensch, wie viel Seele in so einer Stimme
stecken kann.
AR Wenn Sie sich an Ihre ersten Engagements
erinnern: Kamen Ihnen gelegentlich Zweifel an der Richtigkeit Ihrer
Entscheidung, Sänger geworden zu sein?
JK In meinen ersten Jahren an der Oper
Saarbrücken geriet ich in eine ziemliche Krise. Die Realität des
Opernbetriebs traf mich einigermaßen unvorbereitet. Während die Hochschule
eine Art „Retortenbetrieb“ ist, in dem man von sich das Gefühl hat, bereits
„alles“ zu wissen, „alles“ zu können, stellt sich das wirkliche Leben ganz
anders dar. Gerade in der Anfangszeit, wenn man an einem kleineren Haus
engagiert und in den normalen Betrieb integriert ist, steht man fast in
jedem Stück auf der Bühne. In Saarbrücken hieß das: Von Montag bis Samstag
zweimal vier Stunden Proben am Tag. Bei dieser Beanspruchung habe ich
gemerkt: So richtig singen kann ich noch nicht. Glücklicherweise fand ich
einen Lehrer, der mir auf die Sprünge half.
AR Andererseits haben Sie sich später teilweise
deutlich gegen gewisse Ratschläge von Gesangslehrern entschieden. Was waren
die Gründe?
JK Während meines Studiums habe ich mit einer
sehr leichten, hellen, deutschen Stimme gesungen. Das hatte damit zutun,
dass man von einem jungen deutschen Sänger einfach erwartete, wie ein junger
deutscher Sänger zu klingen. In dieses Schema, das von Namen wie Peter
Schreier geprägt wurde, musste man hineinpassen. Mir empfahl man, alles
langsam, vorsichtig und leise zu machen, und wenn ich Glück habe, könne ich
mit 40 vielleicht sogar einmal den Belmonte singen. Mit dieser Prämisse
benützte ich meine Stimme.
AR Und genau das war falsch?
„Mach doch mal deinen Mund auf, lass deine Stimme
heraus“
JK Genau das war falsch. Richtig wäre gewesen,
erst einmal loszusingen, um zu erkennen, was eigentlich meine Stimme ist.
Aber immer, wenn ich einen solchen Anlauf nahm, wurde ich zurückgepfiffen.
Mir wurde bedeutet, das sei ungesund und ich würde, wenn ich das weiter
triebe, in kürzester Zeit keine Stimme mehr haben. Dabei erging es mir genau
umgekehrt: Mit diesem leichten, kopfigen Singen bekam ich bei meinem ersten
Engagement ernste Probleme. Bis mir der zu Rate gezogene Lehrer erklärte:
„Mach doch mal deinen Mund auf, lass deine Stimme heraus.“ Das war für mich
wie eine Erlösung.
AR Haben Sie den Eindruck, dass manches, was die
„Altmeister“ lehrten, heute so nicht mehr gültig ist?
JK Ich würde eher sagen, das Gegenteil trifft
zu. Es gab zwischendurch eine Welle, in der Ausdruck und Interpretation so
extrem im Vordergrund standen, dass dadurch die Festigkeit der Stimme
beeinträchtigt wurde. Sehr viele Karrieren sind relativ schnell nach oben
gegangen und dann auch relativ schnell wieder nach unten, weil ihnen das
Fundament fehlte.
AR Und das Fundament wäre?
JK Das Fundament ist das Belcanto-Singen. Man
muss es können, bevor man sich auf das Glatteis der wilden Interpretation
begibt. Natürlich ist es wichtig, einen Text gut zu interpretieren. Was
wären Wagner oder Strauss ohne exzellente Textinterpretation? Trotzdem kann
eine solche Interpretation nur im Rahmen der jeweiligen stimmlichen
Möglichkeiten vonstatten gehen und unter Einbeziehung aller technischen
Hilfsmittel, die eine Stimme gesund halten. Wenn man das kombiniert,
funktioniert es sehr gut. Ich selbst singe nicht nur deutsche Sachen, Wagner
und Strauss, was mir sehr häufig angetragen wird, sondern versuche, sie
möglichst gleichwertig zu verbinden mit französischen und italienischen
Partien. Hinzu kommt, dass es mir nicht erstrebenswert erscheint, immer nur
die gleichen Partien zu singen. Das Schöne an dem Beruf ist doch, dass man
ständig neue Sachen kennen lernt, in neue Charaktere schlüpfen kann und
versucht, sie zum Leben zu erwecken.
AR In der Tat ist Wagner in Ihrem bisherigen
Repertoire nur spärlich vertreten
JK Noch bis vor wenigen Jahren wagte ich an
Wagner gar nicht zu denken. Ich war, wie so viele andere auch, der festen
Überzeugung, man müsse erst ein gewisses Alter und eine Reife erreichen, bis
man sich Wagner aneignet. Es ist aber nicht das Alter, sondern es ist die
stimmliche Reife, die für Wagner erreicht sein muss. Man muss also einfach
der Stimme folgen. Das ist ein Motto, dem ich nachzustreben versuche. Man
darf die Stimme nicht manipulieren, sie nicht in bestimmte Richtungen
treiben wollen. Den eigenen Stimmklang zu akzeptieren, darauf kommt es bei
aller interpretatorischen Anpassung an den Stil eines Komponisten oder die
Art eines Stückes an.
AR Aber Ihre Stimme ist doch für Wagner
hervorragend geeignet.
JK Es wäre mir ein Leichtes, den Kalender mit
lauter solchen schwergewichtigen Partien zu füllen. Aber ich möchte nicht
übertreiben. Ich erinnere mich noch an meine erste „deutsche“ Partie: Das
war Florestan in einer konzertanten Aufführung von „Fidelio“ unter Helmut
Rilling. Er hatte mich zu diesem Projekt lange überreden müssen, denn ich
war sehr skeptisch meiner Stimme gegenüber. Doch im Laufe der Proben und
Konzerte stellte ich fest, dass ich überhaupt keine Schwierigkeiten mit der
Partie hatte, selbst bei ihren vertracktesten Passagen nicht. Das Ganze fiel
mir ungemein leicht. Wenn ich hingegen daran denke, wieviel Mühe es mir
bereitet, einen Ferrando zu singen. Später sang ich dann in Zürich den
Florestan auf der Bühne, gefolgt von Parsifal und Stolzing in den
„Meistersingern“ — alles letztlich „probehalber“, um das Fundament meiner
Stimme für solche Partien zu prüfen. Daneben liegt mir sehr an einer
Weiterentwicklung des italienischen und französischen Fachs, um eine gesunde
Mischung zu erreichen. Auch Mozart ist ein sehr geschätztes Fach. Für
Franzosen beispielsweise ist Mozart die Königsdisziplin — mehr noch als für
die Deutschen —‚weil man da nicht wild drauflossingen kann, sondern alles
äußerst präzise dosiert sein muss und in dieser Präzision trotzdem die
gewisse gefühlsbetonte Freiheit finden. Wenn man mitbekommen hat, wie das
funktioniert dass man seine Stimme sich selbst überlässt, dann ist
eigentlich die Stimme diejenige, die dem Sänger das Fach vorgibt.
AR Gibt es eine Traumpartie, die zu verkörpern
Ihnen bisher versagt blieb?
JK Traumpartien sind eigentlich immer
diejenigen, die man als Nächstes in Angriff nimmt, weil man sich damit am
meisten beschäftigt und versucht, die jeweilige Partie zum Höchsten zu
erheben. Aber natürlich gibt es wie für jeden Sänger auch für mich
„Traumpartien“. Otello beispielsweise: wunderbare Musik, traumhaft zu
singen, ein abartiger Charakter zu interpretieren. Das ist eine Partie, auf
die ich schon jetzt mit Sehnsucht warte. Aber ich weiß, bis dahin kommen
noch viele Stufen, die ich überwinden muss. Wer Otello erreicht hat, für den
gibt es im italienischen Fach kein Weiterkommen mehr. Er weiß dann nicht,
mit was er sich noch motivieren soll. Und im deutschen Fach verhält es sich
nicht anders: Tannhäuser oder Tristan sind hier gewissermaßen die
herausragenden Licht- und Endgestalten.
AR Nun treten Sie auch als Liedsänger auf.
Stimmt es, dass das Publikumsinteresse an Liederabenden seit geraumer Zeit
beträchtlich nachgelassen hat, wie Konzertveranstalter klagen?
JK Die Kultur der Liederabende ist im Niedergang
begriffen. Sogar die berühmten Liederabendserien im traditionsbewussten Wien
und Graz haben Schwierigkeiten mit dem Kartenverkauf. Zugleich beobachte
ich, dass es eigentlich nicht mehr die Regel ist, dass ein Sänger, der im
Opernbereich erfolgreich wirkt, auch noch Liederabende gibt. Dabei ist das
stimmtechnisch überaus wichtig, weil man da als Sänger von der Dynamik her
in Bereiche vordringt, die man beim Gesang mit Orchesterbegleitung nie
gebrauchen würde, weil es unhörbar wäre. Im Liedgesang kann man soviel
spielen mit den verschiedenen Stimmfarben und musikalischen Ideen. Plötzlich
nimmt man ein ganz anderes Tempo, man macht ein riesiges Rubato oder ein
plötzliches Piano, wo man immer Forte gesungen hat—das alles geht beim
Liedgesang,wenn einem ein guter und inspirierter Pianist zur Seite steht.
Liedgesang ist eine Disziplin, die den Sänger fordert: Man steht allein vor
dem Publikum und muss den Abend tragen, ohne sich irgendwo hinter der
Kulisse oder im Kostüm verstecken zu können.
AR Eine letzte Frage: Sie sind als „größter
Hoffnungsträger der deutschen Klassikszene“ apostrophiert worden. Ist das
eine Herausforderung oder eher eine Belastung für Sie?
JK Ich höre das zum ersten Mal und muss zugeben,
es klingt nach Belastung. Wenn dem wirklich so wäre, fände ich das sehr
bedauerlich — denn wo ist dann der Rest? Die Idee, dass bei einer Sängerin
oder einem Sänger alles rundum stimmen muss — Persönlichkeit,
schauspielerische Begabung, Aussehen, Stimme etc. — ist mir zwar
verständlich, weil auch ich glaube, dass die Zukunft der Oper darin liegt,
ein Gesamtspektakel zu bieten und nicht nur „reinen Schöngesang“. Aber das
Allerwichtigste muss das Singen bleiben. Ich finde es schon ein wenig
traurig, wenn die verschiedenen Fähigkeiten eines Darstellers des
Musiktheaters in den höchsten Tönen gelobt werden und dann am Schluss, ganz
nebenbei, angemerkt wird: Ja — und singen kann er auch. Jedenfalls hoffe
ich, dass ich nicht der Einzige bin und es noch andere mehr von meinem
Schlag gibt. Wo immer ich in der Welt herumkomme, überall sehe ich, dass
neue Stimmen heranwachsen. |