Welt
Von Elmar Krekeler
 
„Einmal im ersten Akt bin ich fast ohnmächtig geworden“
Startenor Jonas Kaufmann singt im „Turandot“ an der Wiener Staatsoper. Dass seine Stimme wieder voll da ist, ist ein großes Glück. Noch im vergangenen Jahr drohte wegen einer rätselhaften Krankheit das Karriereende. Eine Begegnung in der Kantine der Staatsoper.
 
Der Jonas hat Glück. Sein Teller ist noch da. Wir haben beide eben noch auf der Bühne der Wiener Staatsoper gesehen. Den Teller und den, den sie alle hier nur Jonas nennen. Jonas Kaufmann, der hier so wenig wie ein Weltstar behandelt wird, wie er, der „Tenorissimo“, sich als Weltstar gibt. Dann sind die beiden abgegangen.

Der Jonas hat die Boris-Becker-Faust gemacht. Die erste Durchlaufprobe von Claus Guths „Turandot“-Inszenierung war vorbei. Schien es jedenfalls. Keine fünf Minuten später war Jonas Kaufmann allerdings wieder da. Ohne Teller. Den hat er noch schnell zur Sicherheit zurück in die Kantine gebracht.

Es mussten noch die Verbeugungen geübt werden. Eine Haupt- und Staatsaktion. Wann tritt der Chor vor, wann kommt welcher Sänger von welcher Seite. Will alles organisiert sein.
Jetzt sind wir in der Kantine. Dem Jonas wird der Teller gebracht. Nudeln mit Speck, Salat, Frittatensuppe. Er hat Hunger. Vier Stunden hat er als Calaf beinahe dauernd auf der Bühne gestanden. Um elf ging’s los, jetzt haben wir fast halb vier.

Im schwarzen Shirt sitzt er da. Sein Kostüm ist er los, in dem er sich gefühlt hat wie in einer Sauna, sagt er. Dass er geschwitzt hat, konnte man sehen. Man wollte ihm ständig ein Taschentuch reichen. Irgendwann hat er angefangen, sich mit seinem irgendwie sanft mongolisch gestalteten Jackett selbst Luft zuzufächern. „Einmal im ersten Akt bin ich fast ohnmächtig geworden“, sagt er. Da muss noch irgendwie Luft in die Klamotten bis zur Premiere.

Absolute Höhen am Abend leichter
Morgens singen, sagt er, sei nicht ideal. Aus dem Alter, dass er bis zwei schlafen würde, wenn er keinen Wecker hätte, sei er zwar raus. Und er ist auch nicht drei Stunden früher aufgestanden als sonst, um seine Stimme in Form zu bringen. Die absoluten Höhen zu erreichen, sei allerdings am Abend leichter.
„Man weiß besser, was man noch so alles im Köcher hat, wenn man das auch mal abends geprobt hat und nicht immer nur an diesen ziemlich erkältungsgefährlichen Wiener Vormittagen.“ Es schneit leicht vor der Staatsoper. Und man macht sich Sorgen um Kaufmanns kostbare Kehle. Aber dazu später mehr.

Das mit dem Köcher und dem Wissen darum, was einem alles zur Verfügung steht gegen Ende, wie man mit seinen Kräften haushaltet, ist vor allem deswegen wichtig, weil dieser Calaf Kaufmanns Rollendebüt ist. Jedenfalls auf der Bühne. Konzertant hat er das schon mal gesungen, sagt er. In Rom. Mit Antonio Pappano am Pult der Accademia Santa Cecilia.

Jonas Kaufmann singt "Nessun dorma"
Ansonsten hat er – abgesehen vom Smash-Hit „Nessun dorma“, den jeder halbwegs begabte Tenor zu trällern versucht und der in keiner Puccini-Gala fehlen darf – mit der Geschichte vom Tartaren-Prinzen gefremdelt. Ein Liebeswahnsinniger, der um die chinesische Prinzessin Turandot wirbt, obwohl er sie nie gesehen hat, dann deren Quiz erfolgreich besteht, das ihn im Erfolgsfall die Hand der Turandot eingebracht, im Fehlerfall aber buchstäblich den Kopf gekostet hätte. Und der die Prinzessin schließlich geradezu gewalttätig zum glücklichen Ende küsst.

Das Ganze in einem Getümmel von schwer koordinierbaren Massenszenen, inmitten eines brodelnden Chores und eines gewaltigen Orchesters. Ist der wahnsinnig, fragt sich jeder. Also der Calaf und der, der ihn singt. Und Turandot, die eiseskalte Unnahbare, die sei so eiseskalt und unnahbar, dass man sich gar nicht für sie interessiere, sagt Kaufmann.

Dass in Wien für ihn alles anders ist, hat mit Claus Guth zu tun. Den kennt er seit dem Studium. Der macht Opern gern anders. Entkernt sie in ornamentfreien Kuben auf ihr psychologisches Kerngerüst. Dass Kaufmann als eine Art nachgeborener Yul Brynner durch eine Chinoiserie, ein Kostümfest am Rande der kulturellen Aneignung würde stolpern müssen, war also eher nicht zu erwarten.

Und mit dem von Claus Guth gewählten Ende des Stücks, das Puccini als Torso hinterließ, hat Kaufmanns Entschluss zum späten Debüt auch zu tun. Das längere Wiener Finale von Franco Alfano, sagt Kaufmann, erklärt erst, warum die so sind, wie sie sind, warum Turandot so ein versehrtes großes Kind ist und wie sie die Annäherungsversuche, die Liebe des Calaf derart aus der Bahn werfen können.

Es ist ein gefährliches Stück, sagt Kaufmann. Sein Vorgänger Franco Corelli hätte seiner Kollegin Birgit Nilsson während der Liebesszene in „Turandot“ fast mal ins Ohr gebissen, weil sie so laut war. In Wien hat man eher Angst um Kaufmanns Gehörmuschel.

Asmik Grigorian nämlich, in weißes Tüll gehüllt, in einem Puppenheim liegend, ist eine kaum zu bremsende Naturgewalt. Sie schont sich nicht, wie man sich bei Proben schonen sollte. Und Kaufmann tut es ihr gleich. Das hat, sagt Kaufmann, damit zu tun, dass sie es beide zum ersten Mal auf der Bühne singen und erst einmal Routine bekommen müssen, was alles geht. Und mit der Situation in der Staatsoper mit halb heraus gefahrenem Orchester und vor den Sängern platziertem Chor. Da will erst einmal eine Balance gefunden werden.

Kaufmann trägt Dunkelblau auf der Bühne. Die erwähnte irgendwie tatarisch anmutende Schwitzjacke. Eine angedeutete Pluderhose. Er ist ein Fremdling in einer lindgrünen Diktatur. Die sieht sehr nach chinesischem Parteitag aus. Der ganze Chor ein bürokratischer Mob mit gleichen Anzügen, gleichen Krawatten, gleichen orangenen Haaren, der sich abgeschlagene Köpfe der an Turandot gescheiterten Prinzen in Kisten zuwirft wie in einer Amazon-Zentrale.

Fällt mal einer runter, ist Kaufmann da. Er ist ein fürsorglicher Sänger. Einmal geht er nach hinten und ruft jemanden zur Ordnung, der während der Probe auf der Hinterbühne derart laut Vorträge hält, dass man sie auch im Zuschauerraum mitschreiben könnte.

Einmal legt er einen bunten Teppich wieder ordentlich zurecht, der um einen Abgang in die Unterbühne platziert ist. „Das ist saugefährlich“, sagt er. Er hat sich auch schon mal einen Akkuschrauber geben lassen, als da mal was gefährlich herausragte. Er kennt da nichts. Er macht das gern. Repariert sogar in der Garderobe herum, wenn es nötig ist.

Ganz viele Diagnosen
Ansonsten geschieht da kein Hexenwerk. „Method acting hat mich nie interessiert. Man muss es schaffen, auf Knopfdruck Calaf zu sein und zu fühlen, was der in dem Moment fühlen sollte. Ich ziehe meine Sachen an, mache meine Übungen. Ein bisschen Yoga, ein bisschen Einsingen, versuche, mich in Stimmung zu bringen.“

Das war’s. Und so schnell, wie er reinkommt, ist er auch wieder raus aus der Rolle und sitzt jetzt hier. Draußen wird es finster, die Nudeln gehen zur Neige.

Dass er hier sitzt, ist nicht selbstverständlich. Noch im vergangenen Jahr hat er sich monatelang die Seele aus dem Leib gehustet und weiter gesungen und nicht gewusst, was es war, das ihm da so zusetzte. Ist von Arzt zu Arzt gerannt. „Ich habe so viele Theorien gehört. Es ist Reflux, es ist eine Lebensmittelunverträglichkeit, es ist ein Post-Nasal-Drip-Syndrome.“ Nichts davon war es wirklich, nichts hat geholfen.

Kaufmann, der von sich sagt, dass „ich dank meiner Eltern von Kindheit an ein Urvertrauen erfahren habe, sodass ich an jedem Punkt meines Lebens überzeugt davon war, dass es irgendwie werden würde“, und der immer gefremdelt hat mit dem Krisengerede – Kaufmann war bis ins Mark erschüttert und wähnte sich fast am Ende seiner Karriere.

Machte aber weiter. Nahm sich kein Sabbatical. Es war beim Singen, sagt er, „wie Gas geben und bremsen zugleich, ein Balanceakt, immer genau auf der Grenze zu bleiben, jenseits derer die Stimme wegbricht“.

Das Problem war vor allem, sagt er, „dass man, um das zu kompensieren, sofort anfängt, technisch anders zu singen. Und die Muskeln merken sich, was man da tut. Und hinterher hat man Schwierigkeiten, wieder zum ursprünglichen Singen zurückzukommen.“ Außerdem brauchte „die Lunge sechs bis acht Wochen, allein um ihre angegriffenen Schleimhäute zu erneuern.“

Mehr Lücken einbauen in den Kalender
Ein multiresistentes Virus war es am Ende, und mit Antibiotika ging es wieder weg. Mittlerweile, sagt er, „bin ich sehr froh, an einem Punkt angekommen zu sein, wo ich vor langer Zeit mal war“.

Eigentlich hatte er sich sowieso mal, während Corona war das, vorgenommen, sich nicht mehr von seiner eigenen Agenda jagen zu lassen. Als sein Jüngster sich angekündigt hat, wollte er mehr Lücken einbauen in seinen Konzertkalender. Die ersten Lücken hat er im kommenden Jahr. Dann wird sein Sohn fünf.

Immerhin könne er sich das leisten, selbst eine Auszeit. Junge Sänger könnten das nicht. Der Betrieb sei immer schon gnadenlos gewesen, aber sei heute noch gnadenloser geworden. Mit dem Wissen, das er heute habe, würde er nicht nochmal Anfänger sein wollen. Kaufmann kann sich seine Herausforderungen selbst aussuchen.

Die Bucket List jener Rollen, die ihm noch in seinem persönlichen Spielplan fehlten, sei eine Shortlist, sagt er. Pfitzners „Palestrina“ vielleicht. Debussys „Pelléas et Melisande“. Giordanos „Fedora“. Britten. Den „Tannhäuser“ mal ohne Husten und den „Tristan“, den er im Corona-Sommer 2021 gesungen hat, ohne Publikumsbeschränkung.

Er sei schnell im Rollen-Lernen, sagt er. Drei, vier Coachings mit einem Repetitor, dann endgültig auswendig lernen. Dann habe er’s für gewöhnlich drauf. Ihm gehe das manchmal selbst zu schnell, denn da falle es einem schwer, mehr Vorbereitungszeit von der Agentur zu fordern. Zu Hause müsse er nur die Feinarbeit machen.

Das ist vielleicht auch gut so. „Denn richtig glücklich mache ich mit meiner Heimarbeit aus den oft kruden Opernschnipseln – abgesehen von meinem Fast-Fünfjährigen, der immer mitsingt – keinen.“ Bisher jedenfalls. Bis „The Sound of Movies“. Das ist sein jüngstes Album mit Hollywood-Filmsongs, das kommt bei seinen großen Kindern richtig gut an.

Jonas Kaufmann singt "Ihr Kinderlein"
Gesungen wurde im Hause Kaufmann natürlich auch an der Bettkante, Musik machen sie alle irgendwie, spielen Geige und Flöte und Klavier. Eine feine Stubenmusik wird zu Weihnachten schon zusammenkommen. Aber Musiker werden wollte am Ende doch (noch) niemand.

Die Weihnachtslieder muss sich Kaufmann übrigens bis in die letzte apokryphe Strophe nicht extra draufschaffen wie den Calaf. Die Textblätter kleben ihm, sagt er, noch im Hinterkopf, seit er mit fünf anfing, im Kinderchor zu singen.

Viel Zeit für Gemütlichkeit ist sowieso nicht. Er ist halt ein Gejagter. Am Tag nach der ersten Hauptprobe sang er bei der Auslosung der Fußball-EM-Gruppenspiele in der Elbphilharmonie in Hamburg. Dann war Generalprobe für „Turandot“. Dann ist Premiere.

Am 22. steht die letzte „Turandot“ an, am 27. muss er zur ersten Probe fürs Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko. Der erste Akt von Wagners „Walküre“ steht an. Der März steht im Zeichen des „Parsifal“, da erscheint ein Mitschnitt aus der Wiener Staatsoper.

Zu erzählen, warum er so froh ist sich zu allem Überfluss auch noch die Intendanz des Festivals in Erl am Wilden Kaiser ans Bein gebunden zu haben und was er damit vorhat, dafür fehlt uns heute die Zeit. Jetzt muss er los. Und seinen Teller wegbringen.

















 
 
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