Opernwelt, August 2020
Uwe Schweikert
 
NOCH IN DER EKSTASE BEHERRSCHT
 
Jonas Kaufmann überzeugt in der von Antonio Pappano dirigierten Studioaufnahme von Verdis «Otello»
 
«Otello» ist der Gipfelpunkt des romantischen italienischen Melodrammas und zugleich ein Meilenstein in der Entwicklung des dramatischen Tenors, vor allem aber eine Partie, deren stimmliches Profil alles übertrifft, was Verdi bis dahin von seinen Sängern verlangt hatte. Schallkraft und baritonales Timbre, strahlende Höhe und heldisches Pathos sind unerlässliche Voraussetzungen, genügen allein aber nicht, um das ganze Spektrum der inneren Tragik der Figur zu erschließen. Die Extreme bewegen sich, im oft abrupten Wechsel zwischen Parlato, Cantabile und Deklamato, zwischen leisen, gebrochenen Tönen und rasenden Wutausbrüchen. Um alle Schattierungen vom strahlenden Helden bis zum psychischen wie physischen Zusammenbruch zu vermitteln, bräuchte man nicht nur eine, sondern mehrere Stimmen. Jedenfalls bleiben in dieser nach «La traviata» und «Aida» meist aufgenommenen Verdi-Oper mit Ausnahme Ramón Vinays alle Tenöre hinter den Ansprüchen der stimmmörderischen Partie zurück.

Jonas Kaufmann hat den Otello erstmals im Juni 2017 in London gesungen (ein Mitschnitt der Aufführung liegt auf DVD vor). Allein den Starqualitäten des Tenors dürfte es zu verdanken sein, dass seine Plattenfirma sich den Luxus leistete, die ganze Oper in Rom an 14 Tagen unter Studiobedingungen zu produzieren - mit dem Orchester und Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Antonio Pappano, der schon die Londoner Aufführungsserie dirigiert hatte. Kaufmann, kein Zweifel, hat die Chance genutzt, wie man beim Vergleich mit der Londoner DVD unschwer hören kann, und seinen eigenen Weg durch die Rolle gesucht. Mit seiner leichteren, helleren, aber durchaus höhensicheren Stimme kann er ohnehin mit den baritonalen Trompetern vom Schlage eines Mario del Monaco nicht konkurrieren, das stromlinienförmig expressive Al-fresco-Singen eines Plácido Domingo ist auch nicht seine Sache. Kaufmann hat seine Stimme stets im Griff, keine Note fällt unter den Tisch. Im Gegenteil, er beachtet jede artikulatorische, dynamische und rhythmische Nuancierung, phrasiert und deklamiert, in hervorragendem Italienisch, aufs Genaueste. Weder mogelt er, wie fast alle Kollegen, bei der tückischen Vorschlagsnote im «Esultate» noch drückt er sich ums Pianissimo auf dem hohen As («venere splende») Ende des ersten Akts - ein Moment magischer Entgrenzung des zusammen mit Federica Lombardi berückend gesungenen Liebesduetts. Überwältigend auch das «Niun mi tema», wenn Otello der toten Desdemona nachstirbt - «mit halb erloschener verschleierter Stimme (...) aber mit sicherer», ganz so, wie Verdi es sich wünschte und notiert hat. Nicht alles gelingt auf diesem Niveau - dem «Esultate» fehlt der squillo, den eruptiven Ausbrüchen die dunkle, bronzene Farbe, dem Duett mit Desdemona im dritten Akt der bittere Sarkasmus. Vor der radikalen Zuspitzung des Charakters, der letzten emotionalen Überwältigung schreckt Kaufmann zurück, bleibt auch in der Ekstase noch beherrscht, was wohl nicht nur der Studiosituation mit ihren kleinteiligen Takes geschuldet ist.

Stimmlich steht ihm Carlos Álvarez mit seinem machtvollen, gut fokussierten Bariton in nichts nach. Leider vergreift er sich hier in den Mitteln und ist fast durchweg zu laut, zu wenig nuanciert. Nicht vokales Auftrumpfen, parlierendes Understatement, ein agierendes Deklamieren wäre hier gefragt. Álvarez singt über die vielen mezza voce-, sotto voce- und cupo-Anweisungen Verdis, ja selbst über explizit notierte Piano-Einsätze ungerührt mit voller, offener Stimme hinweg. Sein Jago ist kein verschlagener Zyniker, sondern ein allzu robuster, selbstsicherer Intrigant.

«Die vollkommenste Desdemona», so Verdi, «wird immer die sein, die am besten singt.» Federica Lombardi, die hier ihr Rollendebüt gibt, überzeugt mit ihrer warm timbrierten Stimme fast auf der ganzen Linie. Im Liebesduett wie in ihrer großen Solo-zene glänzt sie mit lyrischer Verinnerlichung, übergipfelt das Concertato im dritten Akt mit klangvollen
Spitzentönen, nur in der vorausgehenden Konfrontation mit Otello («Dio ti giocondi») hätte man sich mehr dramatischen Nachdruck gewünscht. Bis auf den etwas dünn klingenden Liparit Avetisyan als Cassio sind auch die Nebenrollen ansprechend besetzt. Antonio Pappano hat das glänzend spielende Orchester wie den machtvoll singenden Chor fest im Griff, treibt das Drama voran, leuchtet viele Details aus. Was ihm bei aller Flexibilität fehlt, ist der unerbittliche Nachdruck eines Toscanini und das dramatische Feuer eines Carlos Kleiber.




















 
 
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