Online Merker, 28.07.2023
Dr. Ingobert Waltenberger
 
ANDREA CHENIER – Filmmitschnitt aus der Bayerischen Staatsoper vom Dezember 2017
 
Jonas Kaufmann, Anja Harteros und George Petean brillieren in einer fantasievoll werkgetreuen Produktion von Philipp Stölzl. Der damals 78-jährige Brian Large beweist ein weiteres Mal, dass er der beste aller klassischen Musikvideomacher ist.

„Dieses rasante Erzählen mit seinen glaubhaften Gesprächs- und Emotionsbögen vermittelt fast den Eindruck, als hätte Giordano gerne einen Spielfilm gedreht, aber noch nicht die nötige Technik zur Verfügung gehabt. Tatsächlich erlebt gleichzeitig zur Entstehung und Uraufführung der Oper auch der Film seine Geburtsstunde.“ Philipp Stölzl

2015 gab Jonas Kaufmann in London das Rollendebüt als schwärmerischer italienischer Poet „Andrea Chenier“ in Umberto Giordanos gleichnamiger romantischer Edelkitschoper mit Anspruch. In Paris stirbt der an soziale Gerechtigkeit und schicksalhafte Liebe Glaubende als Außenseiter zwischen allen Sesseln in den Revolutionswirren der Konterrevolution angeklagt 1794 am Schafott. Von der Aufführung am Royal Opera House Covent Garden mit Zeljko Lucic und Eva-Maria Westbroek in den beiden anderen Hauptrollen ist bereits 2016 ein Video (DVD/Blu-ray; Warner) erschienen. In England bildeten DavidMcVicar und Antonio Pappano das szenische und musikalische Leading Team.

In München fand die Premiere der zeit- und musikhistorisch präzisen, wie detailversessenen Inszenierung von Philipp Stölzl am 12.3.2017 statt. Kaufmann hatte sich gerade von längeren Stimmbandproblemen erholt. Der nun vom Eigenlabel Bayerische Staatsoper Recordings veröffentlichte Mitschnitt stammt allerdings aus einer Aufführungsserie von Dezember des Premierenjahres, wo der in diesem Fach so glückhaft, weil musikantisch agierende Marco Armiliato Omer Meir Wellber als Dirigent nachfolgte und George Petean von Lucic die Rolle des Carlo Gérard übernahm.

Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl entwickelt das Drama di ambiente storico aus dem Jahr 1896 auf ein sehr gutes Libretto von Luigi Illica in einem fantasievollen Erzählfluss mit einem vielteiligen Bühnenbild, das eine Welt im Querschnitt über und unter der Erde darstellt. Geschehnisse im Inneren und im Freien können so simultan ablaufen. Die alte starre Welt des Adels mit ihrem standesdünkelhaften Gottesgnadentum weicht auf dem steinigen Weg zu Laizismus, Liberalismus und Demokratie nur einer weiteren Fratze menschlicher Niedrigkeiten in Form eine paranoiden Spitzeldiktatur unter unglaublicher Verrohung der Sitten. Der Nationaltheater München Debütant Stölzl erzählt die Geschichte, wie sie ist, detailgenau, psychologisch durchdacht, in starken Bildern und einer fein justierten Personenregie, die diese Bezeichnung auch verdient.

Befangen in individuellen Leidenschaften und Bedingtheiten gibt es in diesem über mehrere Jahre geteilten Zeitpanorama nur Verlierer. Die Herrschaften von gestern sind so lange an der Macht, bis sie vor lauter Saturiertheit blind geworden enden. Die unterdrückten Massen machen nach der Revolution alsbald den Platz frei für eine neue korrupte Schicht an willkürlichen Machthabern, die sich schamlos am Allgemeingut bedient.

Die solche historischen Regeln beleuchtende Inszenierung ist deshalb so scharf konturiert, weil Stölzl sich nicht nur mit einem spektakulären Bühnenbild zu Wort meldet, sondern in der mimisch bis ins kleinste Detail durchdachten Personenführung auch aus pauschaler gezeichneten Figuren wie der Maddalena di Coigny oder dem Revolutionär Mathieu spannende und stringente Charaktere aus Fleisch und Blut formt.

So gerät zum Beispiel das Aufeinandertreffen von Maddalena und Gérard im dritten Akt zu einem bestürzenden musiktheatralischen Höhepunkt nicht zuletzt deshalb, weil Anja Harteros als Maddalena und George Petean als Gerard alle widerstreitenden Gefühle ihrer zerrissenen Identitäten in einem Akt des hellsichtigen Erkennens („La revoluzione i figli suoi divora!“) wahrhaftig auflösen. Brutalität und Eifersucht des Gerard wandeln sich im Obergeschoss des ehemaligen Schlosses der Gräfin de Coigny von einer beinahe Vergewaltigung – während sich im Keller der als Batman-Bösewicht Joker maskierte Mathieu mit einem Messer foltertrunken an Chenier zu schaffen macht – zu Mitleid und Schützerinstinkt. Ein Psychothriller, gestisch und mimisch in seelensezierenden Großaufnahmen filmisch auf den Punkt verewigt.

Wunderbar und auch im Staropernkosmos nicht selbstverständlich ist, dass im Einklang mit der trefflichen Regie die musikalische Seite der Aufführung das allermeiste hält oder sogar übertrifft, was sie verspricht. Allen voran Anja Harteros, die als Figur die glaubwürdigste aller Maddalenas verkörpert, die ich erleben durfte. Mit ihrem jugendlich dramatischen Sopran gestaltet sie die vielen Nuancen und Emotionen von der unbedarften Tochter aus adeligem Hause zur jungen Frau, der nach dem gewaltsamen Tod der Mutter nichts als Not, Hunger, Elend und Krankheit bleibt (eindringlich „La mamma morta“) bis zur aus Liebe freiwillig den Tod wählenden übergroßen Heroine (wie äußert sich der elende Spitzel L’Incredibile Gerard gegenüber so zutreffend: „In quel dolor cessa la donna es ecola eronia! Tutto osera!“). Die pastose Mittellage mit ihrem bernsteingelb bis goldleuchtenden Farben wird nur noch von der strahlenden, in den Piani besonders luxuriös schimmernden Höhen getoppt.

Auf demselben Niveau makellosen Gesangs agiert George Petean, eine der klangschönsten und kultiviertesten Baritonstimmen der Jetztzeit. Da ist weniger Metall und testosteronmächtige Stimmkraft im Spiel wie dies einst bei Piero Cappuccilli der Fall war. Petean macht aus dem Carlo Gérard keinen zweiten Scarpia, sondern er vollzieht die Persönlichkeitsentwicklung des meuternden Dieners mit sozialem Bewusstsein zum in Maddalena verliebten Erfüllungsgehilfen Robespierres, der final erkennt, welch „entarteter Form von Gesellschaft er dient“ und im letzten Moment die moralische Notbremse zieht, mit hochnuancierten vokalen Mitteln. Wenn er in seiner Arie „Nemico della patria“ sich als Sklave der Wollust und Leugner seiner Ideale erkennt, die Not der Armen zu lindern, öffnet Petean den Blick in die tiefen Abgründe machtarrogierten menschlichen Eigennutzes. Ein großer Sänger und Darsteller allemal.

Jonas Kaufmann ist in Verismo Rollen und im französischen Fach am intensivsten und auch stimmlich am überzeugendsten, wie ich meine. Sein Stern gründet sich auf einen fantastisch timbrierten, virilen, im Lyrischen zart aufblühenden wie in den Höhepunkten dramatisch zupackenden, in endlosen Schattierungen bronzen sich verströmenden Jahrhunderttenor. Romantische Helden wie „Andrea Chenier“ scheinen ihm auf den Leib und in die Gurgel geschrieben. Schwärmerisch in der Liebe, in seinem Gerechtigkeitsempfinden stets auf der Seite der Entrechteten, ist dem Dichter egal, gegen welches verlogene Regime er anschreibt. Kaufmann ist hundertprozentig immersiv in dieser Rolle. Stimmlich gibt er alles, wenngleich die Forte-Höhen nicht ohne Mühe und Kraftanstrengung anspringen. Dafür bietet Kaufmann in der Mittellage alle Wonnen eines romantischen Helden, da strömt der rauchig-samtene Tenor comme il faut, entzückt dieser Sänger mit intelligenter Textausdeutung und dramaturgischem Spürsinn. Eine grosso modo mitreißende Leistung an einem vielleicht nicht optimal disponierten Abend.

Toll ist zudem, dass auch für kleinere Rollen profilierte Sängerinnen und Sänger gewonnen werden konnten: Allen voran der umwerfend gute Tim Kuypers in einer lebensprallen Charakterstudie als sadistischer Mathieu, Rachael Wilson als Bersi und Andrea Borghini als Cheniers Freund Rocher. Helena Zubanovich erleben wir im ersten Akt als stolze, frisch klingende Contessa die Coigny, während Larissa Diadkova sich mit der Rolle der Madelon als stimmlich überfordert erweist. Erwähnen möchte noch den gelungenen Auftritt des jungen Johannes Kammler als Dichter Pierre Fléville und die markante Gestaltung des Incredibile durch Kevin Conners.

Das Bayerische Staatsorchester unter der fluiden, rhythmisch akzentuierten und atmosphärisch einnehmenden musikalischen Leitung von Marco Armiliato fühlt sich auch im italienischen Repertoire so wohl wie der Fisch im Wasser.

Fazit: Ein viele Melomanen glückselig machender Opernabend mit einer luxuriösen, vokal-darstellerisch-atmosphärisch alle Stricke ziehenden Besetzung in den drei Haupt- und einigen Nebenrollen, filmisch und klangtechnisch exzellent konserviert. Sängerisch, orchestral und szenisch dem eingangs erwähnten Chenier-Mitschnitt aus London überlegen, kann es abschließend ruhigen Gewissens lauten: heiße Empfehlung.
 






 
 
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