Salzburger Nachrichten, 19. November 2019
FLORIAN OBERHUMMER
 
Korngold: Die tote Stadt, Bayerische Staatsoper, ab 18. November 2019
"Die tote Stadt" in München: Im Traum von Trauer befreit
 
Jonas Kaufmann gibt sein Rollendebüt als von Psychosen zerfressener Witwer in Korngolds "Die tote Stadt". Im Zentrum der ersten Saisonpremiere in München ist aber Marlis Petersen.

Doch Alfred Hitchcocks meisterhaftes Vexierspiel wird erst ein halbes Jahrhundert nach Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" das Licht der Welt erblicken. Der Wiener Komponist erweckt als 22-Jähriger die seltsamen Visionen eines Witwers zum Sujet. Das 1920 uraufgeführte Werk speist sich auch aus Freuds Psychoanalyse. Regisseur Simon Stone nimmt diesen Faden auf: Seine Basler Inszenierung, die er an der Bayerischen Staatsoper neu einstudiert hat, kehrt Pauls Unterbewusstsein nach außen.

Zunächst bewohnt der Witwer noch einen geordneten Bungalow, dessen Zentrum ein Trauerraum voll Tausender Polaroidfotos seiner toten Frau Marie bildet. Doch nach dem Besuch seiner neuen Flamme Marietta sind Ralph Myers hyperrealistische Bühnenräume durcheinander: Die Wohnung ist plötzlich zwei Stockwerke hoch, die Raumaufteilung ergibt keinen Sinn mehr. Gleichzeitig eskaliert die Handlung, eine Schauspieltruppe gerät in orgiastisches Treiben und auch Paul vergnügt sich mit Marietta. Als die ursprüngliche Anordnung wiederhergestellt ist, sind Paul alle Türen zur Trauerkammer versperrt. Marietta hat Besitz von seinem Unterbewusstsein ergriffen.

Jonas Kaufmann feiert als Paul sein Rollendebüt - und entwirft dabei das Psychogramm eines Mannes, dessen Trauer nur durch extreme Therapieformen überwunden werden kann. Bis der Startenor seine Stimme entfalten kann, dauert es jedoch. Zunächst wirkt sein Timbre stumpf und gepresst. Kaufmann gelingt es aber, sich frei zu singen, sein rauchiges Timbre strömen zu lassen. An der Stemmkraft für die Forte-Salven seiner Partie fehlt es Kaufmann ohnehin nicht. Im Zentrum dieses Abends ist Marlis Petersen. Die Sopranistin bewältigt die höllisch schwere Partie der Marietta mit erstaunlicher Leichtigkeit. Die betörend schillernden Farben ihrer Stimme sind wie geschaffen für diese Musik, Petersen verfügt aber auch über zartes Piano - und vereint stimmliche Exzellenz und darstellerische Wandlungsfähigkeit: Das nette Mädchen von nebenan verwandelt sich in Pauls Visionen zur hemmungslosen Dancing Queen und zuletzt zur Femme fatale, die geradezu herausfordert, dass Paul Hand an sie legt.

Im zermürbenden Kammerspiel des Finalakts fehlt es Stone an zündenden Ideen, während er in den Partyszenen zuvor aus dem Vollen schöpft. Mariettas Künstlerfreunde feiern koksend und saufend, die Bilder gleichen jenen in Stones Salzburger "Medée"-Inszenierung.

Mirjam Mesak und Corinne Scheurle zeigen sich als Juliette und Lucienne stimmlich ähnlich gelenkig wie an der Poledance-Stange, der großartige Andrzej Fiolończyk gibt den Fritz eher als Anarcho- Joker denn als charmanten Pierrot. Dennoch landet die Truppe im Schlafzimmer, dessen Wände 80er-Jahre-Poster von Madonna, Freddie Mercury und "Dirty Dancing" zieren. Eine Generationenkluft zwischen der Generation X und Paul und seinen Nouvelle-Vague-Filmplakaten? OK, Boomer!

Simon Stones szenischer Realismus korrespondiert ideal mit Kirill Petrenkos Dirigat: Alles ist bis ins letzte Detail scharfgezeichnet, mehr Radierung als pastoses Aquarell. Explosiv fauchen Sforzati aus dem Orchestergraben. In den Wahnszenen mischt Petrenko alchemistische Farbmischungen an, metallische Streicherflächen sorgen für synthetische Verfremdungseffekte. Das mit chirurgischer Präzision agierende Bayerische Staatsorchester legt Dissonanzen und düstere Seelenwelten frei, die unter dem Schönklang lauern.

Emotional berührt diese Produktion, die am Montag umjubelte Premiere feierte, nicht. Doch die analytischen Zugänge bescheren eine andere, nicht minder faszinierende Werksicht.





 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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