Zeit, 4. Juli 2018
Von Holger Noltze
 
Wagner: Parsifal, Bayerische Staatsoper, ab 28. Juni 2018
Vom Wunsch nach Langeweile
Bühnenweih’ als Bildbetrachtung: "Parsifal" plus Baselitz in München

Das Beste an diesem langen Abend sind wahrscheinlich die Pausen. Kirill Petrenko, so flüssig, sogar zügig sein Parsifal-Grundpuls auch geht, hat für die großen Generalpausen alle Zeit der Welt. Es sind keine Spannungspausen, es ist mehr ein Innehalten. Wollte man diese viereinhalb Stunden Wagner-Musik auf einen einzigen Moment zusammenziehen, eine einzige Geste, es wäre ein Seufzer. Ganz anders als neulich Simon Rattles erregt erleuchtete Lesart mit den Berliner Philharmonikern. Sehr gelegentlich, zur Titurel-Totenfeier am Schluss, wird auch Petrenko laut, vor allem aber liebt er die mittleren und leisen und die ganz leisen Töne. Seidenfein lässt er die Streicher des Bayerischen Staatsorchesters im Vorspiel die heilige Aufwärtstreppe des "Dresdner Amens" hinzaubern, die Wagner als Gralsmotiv hernahm: reine Schönheit. Musikalische Beglaubigung, dass es so ein Wunderding namens Gral geben könnte, und traurige Erkenntnis zugleich, dass dem nicht so ist.

Alles Geschehen kreist also um eine leere Mitte, anzunehmenderweise die Wunde des Amfortas, des dauerkranken Königs. Christian Gerhaher, zum ersten Mal in der Rolle des Leidenshelden, gestaltet ihn eindrücklich, ein Somnambuler am Stock. Wie er über die Bühne schlappt, hat er ein wenig auch von Tim Burtons bösem Pinguinmann, er singt aber wie der große Liedgestalter Gerhaher. Das bedeutet, dass er ein einziges Wort wie "Waldesmorgenpracht" mit dreimal wechselnder Beleuchtung zelebriert, dass er die Kunststücke der Wortausdeutung, des Farbwechsels, des Non-Vibratos, des plötzlichen Pianissimos geradezu mikroskopisch ausstellt. Bei aller Hochachtung erwischt man sich bei der Frage, ob es auch so etwas wie Überdifferenziertheit geben kann. Braucht es fürs Theater nicht einen breiteren Pinselstrich? Gleichwohl bleibt Gerhahers Amfortas ein Ereignis eigener Art.

Kurios ist das Nebeneinander eines so hell klingenden Amfortas mit dem baritonal virilen Schmelz des Jonas Kaufmann. Dieser neue Münchner Parsifal kommt nicht als unbedarfter Knabe zum Gral, ist kein kleiner Junge. Er versteht bloß nicht, was es mit der Wunde des Amfortas auf sich hat und warum sie sich partout nicht schließen will. Kaufmann findet dafür einfache Gesten, so wie er später für die Karfreitagswunder der Natur einfache Töne hat, so schwer sie auch zu singen sind. Ein Melancholiker. Als Kundry ihn küsst, die Verführerin, da blendet ihn und uns im Parkett ein grelles Licht. Zur zweiten Stufe der Erkenntnis muss er sich dann die Augen zuhalten, und die Gralsritter tun es ihm nach. Erlösung läuft hier über Introspektion, geht über die Erfahrung von Mitleid und die freundliche therapeutische Begleitung durch einen erfahrenen Meister. René Pape singt den Gurnemanz in einem virtuos eloquenten Wagner-Parlando, dabei jedes seiner vielen Worte wägend, um es dann balsamisch strömen zu lassen. Petrenko trägt ihn auf Händen. So wie er sie alle auf Händen trägt.

Ein bedeutender Künstler, Georg Baselitz, hat an der Bayerischen Staatsoper Wagners "Bühnenweihfestspiel" an seine Bildwelt angeschlossen: Wir sehen düster-deutsche Baselitz-Tannen, Reminiszenzen an seine "Helden"-Serie, nebst einem archaischen Behausungsobjekt. Christof Hetzer hat aus den Bildideen ein dreidimensionales Bühnenbild gebaut. Die Beteiligten sagen, dies sei ein Kunstwerk. Es ist zunächst aber ein nicht eben starkes Bühnenbild, auch wenn das schöne Licht von Urs Schönebaum es gut aussehen lässt. Tatsächlich erlebt man viel Rampensingen vor Kunstbehauptung. Wenn Kaufmann und die große Tragödin Nina Stemme als Kundry sich von ihren Wunden erzählen, wird das Drama einer verpassten Gelegenheit stark nachfühlbar. Dass sich dies vor der Skizze einer banalen Mauer abspielt, ist kaum erheblich. Wenn Klingsors Reich versinkt, fällt der Mauervorhang langsam, sehr langsam herunter. Das ist umso bedauerlicher, als Wolfgang Kochs Klingsor, eine groteske Todeshummel, den bösen Zauberer hochattraktiv macht. Koch singt ihn, faszinierend vielstimmig, als einen Meister des Uneigentlichen.

Das ganze Baselitz-Bohei ist eine Einladung zur Bildbetrachtung; deshalb wohl wollte der Maler das Ganze dunkel und ereignisarm. Im Interview sprach er gar vom Wunsch nach Langeweile. Davon gibt’s reichlich, aber sie fällt bei so viel musikalischer Bayern-Klasse natürlich großartig aus. Dazu gehören auch die Chöre, vor allem die Stimmen aus der Höhe. Die Gralsritter tragen postapokalyptische Funktionskleidung und stehen ebenfalls viel herum. Was aber will uns das alles sagen? Der Regisseur Pierre Audi hält sich mit Regie zurück, verweist, ganz Diener am Werk, auf den bedeutenden Maler. Dieser wiederum verweist auf die Musik, der Rest bleibt vage, ein Oratorium über Erbarmen oder so. Wir blicken auf eine welke Welt, auf viel welkes Fleisch bei den hässlichen Nacktkostümen, in die Florence von Gerkan Gralsmänner wie Blumenmädchen steckt. Als die Sache mit der Erlösung zunächst scheitert, lassen die Tannen die Äste sinken. Im dritten Akt hängen sie dann kopfüber, ach ja. Ein allzu ungefähres Denkbild über unser aller Wunden, nennen wir es eine Installation, und womöglich ist es als Trend lesbar, als Erschöpfungsphänomen. Vielleicht setzt es auf eine Müdigkeit, auf Überdruss am Deutungsfuror des sogenannten Regietheaters. Bloß noch Bilder und Klänge, Dämmern und Schauen.

Gerade proben die Bayreuther Festspiele ihren Eröffnungs-Lohengrin übrigens in Bildern von Neo Rauch, einem anderem bedeutenden deutschen Maler.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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