Neue Zürcher Zeitung, 17.10.2017
Thomas Schacher
 
 
Verdi: Don Carlos, Paris, 10. Oktober 2017
«Don Carlos» in Paris: Solche Stimmen retten alles
 
Selten hat man Gelegenheit, Verdis «Don Carlos» in der französischen Originalversion zu hören. In Paris trägt eine sensationelle Sängerbesetzung über die Mängel der Inszenierung hinweg.
 
«Don Carlos» auf Französisch? Tatsächlich. Giuseppe Verdi, der grösste italienische Opernkomponist, hat dieses Werk nämlich im Auftrag der Pariser Oper geschrieben. Dort wurde es am 11. März 1867 uraufgeführt. In französischer Sprache, nach dem Libretto von Joseph Méry und Camille du Locle, die Schillers Drama für die Bedürfnisse der Oper eingerichtet hatten. Damit «Don Carlos» aber auch in Italien Fuss fassen konnte, liess Verdi die Oper fünf Jahre später ins Italienische übersetzen und schuf für Neapel eine stark veränderte Fassung, die er auch später noch mehrmals überarbeitete. Heutzutage wird «Don Carlo» (ohne s) fast ausnahmslos in italienischer Sprache gegeben.

Umso erfreulicher, dass die Opéra National de Paris unter der Intendanz von Stéphane Lissner sich entschlossen hat, «Don Carlos» in der fünfaktigen französischen Originalfassung herauszubringen. Und zwar in der Urfassung von 1866, der längsten aller Versionen, denn bereits nach der Generalprobe hat Verdi einige Szenen gekürzt. Die Neuproduktion an der Opéra de la Bastille dauert denn auch, mit zwei Pausen, geschlagene fünf Stunden.

Doch die Zeit vergeht im Flug, denn die fünf Hauptrollen sind ausnahmslos mit sensationellen Sängerinnen und Sängern der internationalen Szene besetzt. Die Gesangsparade der Stars findet professionelle Unterstützung von Chor und Orchester der Pariser Oper. Und souverän lenkt Chefdirigent Philippe Jordan das musikalische Geschehen. Der 43-jährige Schweizer, der bereits jetzt auf eine steile Karriere zurückblicken kann, wird Paris bald verlassen, um in der Saison 2020/21 seine neue Stelle als Musikdirektor der Wiener Staatsoper anzutreten.

Ein zahnloser Revoluzzer

Gross waren die Erwartungen an den Regisseur Krzysztof Warlikowski, der in Paris bereits seine sechste Arbeit vorlegen darf. Doch was uns der Pole mit «Don Carlos» sagen will, bleibt bis zum Schluss sein Geheimnis. Es wäre reizvoll gewesen, die politischen Auseinandersetzungen zwischen der spanischen Krone und den aufständischen Flamen sowie die religiösen Kämpfe zwischen Philipp II. und der Inquisition vom 16. Jahrhundert in die Gegenwart zu verlegen, die Flamen gar mit den Katalanen auszutauschen. Doch der Regisseur zieht es vor, im Niemandsland zu verbleiben.

Verdis Identifikationsfigur, der Infant Don Carlos, der seine unmögliche Liebe zur französischen Prinzessin Elisabeth sublimiert, indem er sich, unterstützt von seinem Freund Rodrigue, an die Spitze der Flamen stellt, ist bei Warlikowski ein zahnloser Revoluzzer. Durch Videoprojektionen werden die Ereignisse – man erlebt sie als Aufzeichnungen einer schäbigen alten Kamera – als blosse Erinnerungen des Infanten dargestellt. Und den Kopfschuss, den er sich in der Schlussszene gibt (statt vom Geist Karls V. entrückt zu werden), deutet eine Videosequenz bereits im zweiten Akt an.

Rätsel schafft auch die von Małgorzata Szczęśniak verantwortete Ausstattung. Die einzelnen Bilder und Kostüme sind, in postmoderner Art, ganz unterschiedlichen Stilen verpflichtet. Elisabeths Hofdamen erscheinen als Fechterinnen, bei Philipps Krönung stecken die Protagonisten in barocken Prunkgewändern, der «zivil» gekleidete Inquisitor trifft den König in einem Loft des 21. Jahrhunderts. Wahrscheinlich haben sich der Regisseur und seine Ausstatterin bei alldem sehr viel überlegt, aber als Zuschauer wird man daraus nicht klug, und das verärgert. Zudem schafft die szenische Ebene immer wieder Distanz zum musikalischen Geschehen, so dass man manchmal einfach die Augen schliessen möchte, um sich der berührenden Musik hinzugeben.

Spitzenleistungen

Und die geht wirklich zu Herzen, allem voran durch die blendenden Sängerleistungen. Jonas Kaufmann, der die Titelrolle zum ersten Mal in französischer Sprache singt, ist ein begnadeter Allrounder, der in den Liebesszenen und in der Auflehnung gegen den Vater oder als politisch Handelnder gleichermassen überzeugt. Ihm zur Seite steht kongenial die Sopranistin Sonya Yoncheva als Elisabeth. Grossartig, wie sie den Konflikt zwischen ihrer verbotenen Liebe zu Don Carlos und der politisch verordneten Ehe mit Philipp darstellt. Erst im letzten Duett, nachdem sie bereits Gift genommen hat, kann sie ihren Gefühlen für den ehemaligen Verlobten freien Lauf lassen.

Eine Spitzenleistung zeigt der Bariton Ludovic Tézier als Rodrigue. Musikalisch verfügt er über ein beeindruckendes Reservoir an Tonfällen, passend zu seinem aus Sicht der Regie nicht nur rein altruistischen, sondern auch etwas schlitzohrigen Charakter. Nicht einfach ist die Rolle des Negativhelden Philipp. Ildar Abdrazakov verkörpert indes einen König, der auch seine Konflikte und seine Einsamkeit zu zeigen vermag.

Eine Ohr- und Augenweide ist Elīna Garanča als Prinzessin Eboli. Konzipiert als weiblicher Gegenentwurf zu Elisabeth, intrigiert sie mit allen stimmlichen und darstellerischen Mitteln zwecks Selbstverwirklichung und landet am Schluss – welche Ironie – im Kloster. Bleibt noch der Grossinquisitor, den der Bass Dmitry Belosselskiy derart bedrohlich wiedergibt, dass allen klar ist, wer in diesem Staat das Sagen hat.

Meisterliche Gestaltungskraft

Dass Philippe Jordan im sinfonischen wie im musikdramatischen Repertoire gleichermassen zu Hause ist, hat er tags zuvor in einem Konzert, ebenfalls in der Bastille-Oper, mit zwei Tschaikowsky-Sinfonien gezeigt. Seine innige Vertrautheit mit dem Orchestre de l'Opéra, seine Sensibilität und seine phänomenale Umsetzung eines mehrschichtigen Ablaufs zeigen sich nun auch bei «Don Carlos». Der Dirigent reagiert nicht nur hellhörig auf alle Gestaltungsfreiheiten der Protagonisten, sondern unterstützt sie auch durch ein orchestrales Klangband, das ihre Gefühlslagen reflektiert und ergänzt. Wenn das Kontrafagott vor dem Auftritt des Inquisitors bedrohlich schnarrt, ahnt man, dass es jetzt gefährlich wird. Am Schluss der «deuxième représentation» gibt es einen Riesenapplaus für die Solisten und den Dirigenten, dagegen mächtige Buhrufe für den Regisseur.





 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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