Frankfurter Rundschau, 05. August 2015
Von Hans-Klaus Jungheinrich
 
Beethoven: Fidelio, Salzburger Festspiele, 4. August 2015
Sprachnot um eine Rettungsoper
 
Claus Guths verstörend fulminante „Fidelio“-Neuinszenierung im Großen Festspielhaus geht einen Schritt weiter als die bisherigen Beethoven-Ausdeutungen.
 
Schnell bietet sich für die poetische Sphäre des Beethoven’schen „Fidelio“ das Attribut „furios“ an. Ja, wie viel prometheisches Feuer schlägt aus dieser wunderbaren Partitur! Aber wie unrund, wie geklittert, wie brüchig sind doch auch die formale Gestalt der Oper und sogar ihre Inhaltlichkeit! Unklare Stoffquellen und literarische Halbtalente mussten dazu dienen, dem Komponisten ein Gerüst zu geben für eine musikdramatisch verdichtete humanistische Vision von äußerster Radikalität.

Beethoven war gesonnen, aus dem Topos der vor 1800 aktuell gewordenen „Rettungsoper“ etwas nie Dagewesenes zu destillieren. So wurde „Fidelio“ nach mühevollen, langwierigen Geburtswehen die ultimative Rettungsoper, das Hohelied der Gattenliebe, des unerschrockenen und am Ende siegreichen Kampfes für die Freiheit und gegen Tyrannei. Für den marxistischen Philosophen Ernst Bloch war die Trompeten-fanfare im Kerkerakt das allerheiligste Symbol weltlicher Transzendenz, das Halleluja der unwidersprüchlich sich ankündigenden irdischen Glückseligkeit.

Alles alte Märchenmotive? Nach Generationen gläubiger Nachbuchstabierer eines edlen, schönen, naiven Handlungsganges und dem Absinken eines aufrüttelnden Meisterwerks zum bürgerlichen Feiertagsgenuss (geeignet sogar für die kulturtragenden Zwecke politischer Tyrannen) kamen Generationen von Hinterfragern, Skeptikern, über die Dialektik der Aufklärung Aufgeklärten. Sie legten den Finger auf die Wunden, die Unglaubwürdigkeiten des Stückes. Die Ehrfurcht vor Beethoven verbat ihnen nicht, in die Mechanik des Plots einzugreifen, eigene Geschichten zur Musik zu erzählen.

Die Fasson eines schwarzen Mysterienspiels

Jurij Ljubimovs berühmter Stuttgarter „Fidelio“ endete vor 30 Jahren mit der bitteren Pointe, dass zwar ein Einzelner (Florestan) gerettet wurde, die Tatsache ungerechter kollektiver Gefangenschaft aber bestehen blieb. Schon vorher hatte auch Christoph von Dohnányi als Frankfurter Szeniker die finale Jubelgemeinschaft knallig-unwirklich von den vorangegangenen Ereignissen abgesetzt. Die allen nachdenklichen Interpreten gemeinsame Devise schien zu heißen: keine vorschnelle Versöhnung.

Claus Guth ging jetzt in einer Salzburger Festspielversion wohl noch einen Schritt weiter als die bisherigen Beethoven-Ausdeuter. Das Beiseiteschieben der spielopernhaften Einstiegs-Episoden, die Eliminierung der Dialoge, der im Schlussbild ins Unsichtbare verbannte (und damit als irreale „Klangwand“ markierte) Chor: alles schon da gewesen.

Auch Personenverdopplungen gehören in Opern längst zur dramaturgischen Routine (man denke an Neuenfels’ Stuttgarter „Entführung“). In der Summe zeigten sich die „Fidelio“-Maßnahmen Guths jedoch als schwerwiegend, und sichtlich sorgten sie für nachhaltige Verstörung und Unmut bei den konservativeren Besucherfraktionen.

Überdeutlich war der Monumentalisierungseffekt im Bühnenbild von Christian Schmidt; wie bei ihm gewohnt, eine hyperrealistische Interieur-Nachbildung aus gleichartigen klassizistischen Elementen wie eine übergroße helle Zimmerwand, ebenso raumfüllend wie undurchdringlich. Mehr der Suggestion eines Gefängnisses kam ein mitten auf die Szene ragendes finsteres Materialrechteck entgegen, das sich drehte und in der Kerkerszene auch aufwärts schwebte, um Platz für eine Grube zu schaffen, die Rocco und Leonore nicht andeutungsweise erst zu graben hatten.

Die mitunter geräuschvolle Bewegtheit dieses Bauteils (es erinnerte als Science-Fiction-Requisit natürlich an Stanley Kubricks „2001“) diente auch dazu, die ohne gesprochene Sprache aufeinander folgenden Musiknummern (die ja auch in ihren Tonarten nicht zueinander „passten“) voneinander zu trennen. Vor allem im ersten Akt blieb trotzdem oft der Eindruck, es ginge um die konzertante Wiedergabe der „Fidelio“-Highlights. Nur, dass diese aus sämtlichen Musiknummern bestanden. Einschließlich Roccos „Goldarie“, die sich einem feierlich-oratorischen oder pathetischen Darstellungsgestus am wenigsten fügt.

Auf weite Strecken nahm die Oper mithin die durchaus problematische Fasson eines „schwarzen Mysterienspiels“ an. Guths Personenregie, insgesamt equilibristisch, schwankte könnerhaft zwischen choreographischer, ja geometrisierender Abstraktion und teilweise extremer Psychologisierung. Dieser hatte sich zumal Jonas Kaufmann, stimmlich unendlicher Differenzierung fähig, zu unterziehen, der sich auf bewundernswerte Weise mit dem Regiekonzept identifizierte und die irreparable Kaputtheit des nie wieder „gesellschaftsfähig“ werdenden Sträflings demonstrierte. Wirkliche Rettung geht nicht: Man musste an die Auschwitz-Schicksale Primo Levis oder Jean Amérys denken, die nach dem Lager nicht mehr dauerhaft „frei“ sein konnten.

Mit ihrem ruhevoll betörenden lyrischen Marzelline-Sopran führte Olga Bezsmertna das verhaltende Quartett des ersten Aktes an. Für den liebeshungrigen Charaktertenor Norbert Ernst (Jaquino) gab es kein Happy End. Den gravitätischen Justizrat Dr. h. c. Rocco in Frack und Spazierstock brachte Hans-Peter König durchgehend soigniert auf die Bühne. Sebastian Holeceks greller Pizarro verdrehte sich (samt seinem pantomimischen Schatten-Double) bei jeder Konfrontation mit Autorität ins gekrümmt Wurmartige. Die Leonore von Adrianne Pieczonka verfügte vor allem in der Mittellage über kraftvolle, expressive Töne. Der Dirigent Franz Welser-Möst gab zusammen mit den Wiener Philharmonikern dem musikalischen Geschehen von Anfang an energische und zuverlässige Konturen, aber die vor dem Schlussbild eingeschobene 3. Leonorenouvertüre – man mochte sie im Kontext der Inszenierung auch als Fremdkörper, ja als Konzession auffassen – bedeutete nochmals einen Quantensprung an exzellierender Wiedergabe-Intensität.

Zögernde Zurücknahme der Neunten Symphonie

Immer wieder wird Leonore während ihres Rettungsweges von ihrem Phantomschatten (der Schauspielerin Nadia Kichler) begleitet. An manchen Stellen hält man diese Art der Spiegel- oder Komplementär-Darstellung vielleicht für prätentiös oder entbehrlich. Im Finale indes wird damit eine Handlungssteigerung erreicht, die alle pauschale Dithyrambik aufreißt und ganz andere Horizonte herstellt.

Während die Solisten und der akustisch sehr potente Chor (Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor) ihren Freudentaumel in abstrahierend-anonymer Dringlichkeit mitteilen, bemüht sich die stumme Zweitleonore verzweifelt, mit Gebärdensprache die Wichtigkeiten zu „übersetzen“ und über die Rampe zu schicken, die in ihrer jauchzenden Unmittelbarkeit für die Moderne so unverständlich geworden sind. Eine Botschaft, die nicht mehr geht, wird transformiert in eine Sprache, die im Auditorium kaum einer versteht: Gibt es eine klügere, schlüssigere, ergreifendere Metapher für die Sprachnot, die ein glaubwürdiger „Fidelio“ heute bereitet?!

Das in nicht musikalischer mimischer Vehemenz „aufgehobene“ Kollektivfinale ist wohl auch so etwas wie die (zögernde, vorsichtige, auf Widerruf angelegte) Zurücknahme der Neunten Symphonie nach der Idee Adrian Leverkühns.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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