Opernglas, September 2015
W. Kutzschbach
 
Bizét: Carmen, Chorégies d'Orange, 8. Juli 2015
CHORÉGIES D'ORANGE - Carmen
 
Auch in diesem Jahr waren Startenöre im Theatre Antique von Orange Anziehungspunkte für ein weit angereistes Publikum. Welches Festival bietet schon mit Joseph Calleja in einem Arienabend, Jonas Kaufmann als Don José und Roberto Alagna als Manrico drei der führenden Tenöre auf? Nach dem Recital-Abend tags zuvor mit Joseph Calleja und Ekaterina Siurina, in dem Calleja in prägnanter Artikulation seine stimmliche Affinität zu Luciano Pavarotti durchblicken ließ und mit »L'elisir d'amore« sowie „O sole mio" als Zugabe stark auf dessen Glanzstücke Bezug nahm, gab es eine für drei Aufführungen angesetzte neue »Carmen«-Produktion.

Schon im Vorfeld hatte der Auftritt von Jonas Kaufmann in der Bizet-Oper im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Während Roberto Alagna seit zwanzig Jahren regelmäßig in Orange zu sehen ist und hier auch gern Rollendebüts bestreitet, hatte der bisher einzige Auftritt des Münchner Tenors im Jahre 2006 stattgefunden, und das lediglich in der Tenorpartie des Mozart-Requiems. Kaufmann enttäuschte die hohe Erwartungshaltung nicht. In blendender stimmlicher Form, mit exemplarischer Artikulation und französischer Diktion, sowie einer in der Figur voll aufgehenden Darstellung fand er zu einer bemerkenswerten Verkörperung einer seiner besten Partien. Ganz gleich, ob im „Ma mère, je la vois!" oder im verhauchenden hohen B von „La fleur que tu m'avais jetée" lyrische Qualitäten, ob im Kampf mit Escamillo und im Finale kraftvoller, dramatischer Vortrag gefragt waren, Kaufmann erfüllte alle Ansprüche mit einer unglaublichen Palette von Schattierungen und Farbgebungen. Bewundernswert auch, mit welcher Professionalität er den an diesem Abend gar nicht sängerfreundlichen Wetterbedingungen trotzte: Während der mit achtzig Stundenkilometer blasende Mistral Dirigent und Orchestermusiker mit dem Zusammenhalt der Notenblätter beschäftigt sein ließ, war der Tenor selbst beim feinen Modellieren von Pianissimo-Passagen nicht in seiner Rollenauffassung zu irritieren.

Nicht nur die Bühnenpräsenz Kaufmanns, auch das Regiekonzept machten es Kate Aldrich als Carmen bei ihrem Orange-Debüt schwer. Mit metallisch fein timbriertem, homogenem Mezzosopran und einem intimen, genau akzentuierten Vortrag erfüllte sie zwar alle kompositorischen Vorgaben, blieb dabei aber doch etwas blass und zu wenig erotisch. Da kam Kyle Ketelsen als Escamillo dem landläufigen Bild eines leidenschaftlichen Toreros ungleich näher. Mit schlanker, sportlicher Erscheinung, kraftvoller Höhe und annehmbarer Bewältigung der Tiefen in der unangenehm notierten Partie gelang dem dunkel timbrierten amerikanischen Bassbariton ein erfolgreiches Orange-Debüt.

Inva Mula scheint mittlerweile doch der Partie der Micaela entwachsen, anders als beispielsweise Mirella Freni auch noch in späteren Jahren wirkte sie nicht mehr wie das junge, unschuldige Mädchen vom Lande und auch stimmlich zeigten sich im übermäßigen Vibrato Abnutzungserscheinungen. Opulent wie immer in Orange die Besetzung der kleineren Partien: Helene Guilmette als Frasquita, Marie Karall als Mercédès, Jean Teitgen als Zuniga, Armando Noguera als Morales, Olivier Grand als Le Dancaire und mit Florian Laconi als Le Remendado ein Tenor, der sonst als Don lose zu hören ist.

Auch bei wohlwollender Berücksichtigung der Witterungsbedingungen enttäuschte die Wiedergabe von Mikko Franck am Dirigentenpult. Als Nachfolger von Myung Whun Chung fand er mit dem sensibel und an allen Pulten hervorragenden Orchestre Philharmonique de Radio France zu keiner einigermaßen geschlossenen, spannungsvollen Interpretation. Die im Zeitmaß verschleppten Solonummern —auffallend bei den Chansons der Carmen — und breite Tempi in den Ensembleszenen vermieden zwar den Eindruck eines falschen veristischen Zugangs, doch ohne eine gewisse Nervigkeit, Spritzigkeit und entsprechender Farbigkeit kann sogar eine »Carmen« langweilen. Dass der finnische Dirigent wegen einer Verletzung in der Kindheit im Sitzen dirigieren muss, ist zu bedauern, verstärkte aber gerade bei der hier ungehinderten Sicht auf das gesamte Orchester den Eindruck der Behäbigkeit. Erstaunlicherweisewurde anachronistisch die Guiraud-Fassung mit den nachkomponierten Rezitativen gespielt und das Duett Escamillo/Don José im dritten Akt gestrichen, ein unverzeihlicher Verlust, wenn ein Jonas Kaufmann und ein adäquater Escamillo zur Verfügung stehen.

Regie und Ausstattung lagen in den Händen von Louis Désiré. Mit riesigen, auf Boden und Rückwand ausgelegten Spielkarten und schlichten Kostümen betonte er den düsteren Aspekt des Schicksals und vermied jeden Anflug von Farbigkeit. Elemente aus der Ich-Erzählung der Romanvorlage flossen in sein Konzept ein, wenn Don José auch außerhalb seiner Auftritte stets auf der Bühne zu sehen war. Einige Lanzen symbolisierten das Gefängnis, eine Parallelhandlung der spielenden Kinder zum ersten Auftritt Micaelas versuchte die Szene optisch zu erklären, doch alles blieb bruchstückhaft. Sicher, eine wenig spektakuläre Aufmachung, der Verzicht auf folkloristische Elemente und spanisches Kolorit sind eine Möglichkeit, dem Wesen des Werks beizukommen, doch auf der Weite dieser Bühne und vor über 8000 Zuschauern sind derartige Lösungen fehl am Platz. Da war es durchaus verständlich, dass auf das Erscheinen des Regisseurs zum Schlussapplaus mit lauten Buhs reagiert wurde.

Man darf gespannt sein, ob sich diese Diskrepanz zwischen Regie und Sängern im nächsten Jahr bei »La Traviata« wiederholt, wenn der Inszenierung von Louis Désiré, der wiederum Regie führen wird, ein hochkarätiges Sängertrio mit Diana Damrau, Francesco Meli und Plácido Domingo gegenüberstehen soll.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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