Berliner Zeitung, 3. April 2014
VON JAN BRACHMANN
 
Schubert: Winterreise, Berlin, Philharmonie, 1. April 2014
 
Empfindung als Phantomschmerz
 
Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch mit „Winterreise"
 
Erst wenn der Lack des Vergnügens allen Schmerz versiegelt hat, ist die Verzweiflung vollkommen. Dann hat man jede Empörung hinter sich gelassen und auch das Weinen verlernt. Insofern ist vielleicht nicht „Der Lindenbaum" oder „Der Wegweiser" das am stärksten verzweifelte Lied in Franz Schuberts „Winterreise", sondern die Nummer 19: „Täuschung". Der Tenor Jonas Kaufmann sang es am Dienstag in der Philharmonie, begleitet von Helmut Deutsch am Klavier, wie ein heiteres Operetten-Couplet, das sich im Walzertakt wiegt: „Ein Licht tanzt freundlich vor mir her, ich folg' ihm nach die Kreuz und Quer." Und am Ende die Zeile „Nur Täuschung ist für mich Gewinn" — Der Appetit auf Wahrheit, auch auf Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber, war ihm vergangenen.

Zu Ende mit allen Träumen

Schon in der Nummer 17, „Im Dorfe", hatte Kaufmann die Grundsatzerklärung „Ich bin zu Ende mit allen Träumen" so beiläufig einfließen lassen wie eine Ungeheuerlichkeit in eine Sekt-und-Häppchen-Konversation. „Zu Ende mit allen Träumen" — das hieß hier auch: Abschied vom Traum, durch Desillusionierung oder seelische Selbstentblößung noch irgendetwas ausrichten zu können. Wenn Kaufmann dann beim Schlusslied, dem „Leiermann", leise vor sich hinlächelte, mit den Augen nach innen schaute und zum extrem gedämpften Klavierspiel mit heller Stimme sang „Und er lässt es gehen alles, wie es will", wurde die Zeile zum Schlüssel für die Grundhaltung des Winterreisenden. Hans Albers brachte es vor über achtzig Jahren in einem Schlager auf die Formel: „Ich hab" eine kleine Philosophie: Ich find' alles herrlich und streite mich nie."

Darüber, wie die „Die Winterreise" zu singen und zu deuten sei, hat der Bariton Christian Gerhaher vergangenen November mit einem Vortrag und einem Konzert in der Philharmonie eine Diskussion losgetreten. Für ihn sei die Deutung des Zyklus als „Reise zum Tod" unbedingt „revisionsbedürftig", weil sie ein Publikum befriedige, dass sich in Larmoyanz suhlen will. Der Winterreisende sei mit Sarkasmus bewaffnet, kokettiere allenfalls mit dem Tod, kultiviere in seiner Solidarität mit dem verarmten Leiermann vielleicht sogar einen gewissen Zynismus, wolle aber auf jeden Fall wieder zurück ins Leben.

Bei Kaufmann verhielt es sich anders: Sein Winterreisender war wahrhaft wehrlos. Er hatte sein altes Glück verloren, und nichts, nicht einmal der Tod, verhieß ihm ein neues. Wehrlos war er sogar seiner Liebe gegenüber. Wehrlos, aber nicht weinerlich — denn nichts davon wurde als unmittelbares Gefühl vorgetragen, sondern viel raffinierter: als Erinnerung eines Singenden, den die Empfindung nur noch wie ein Phantomschmerz heimsuchte. Kaufmann und Deutsch durchblätterten „Die Winterreise" als Bilderbogen eines entmachteten Subjekts.

Weidenkätzchenweich

Technisch war das alles auf höchstem Niveau. Kaufmanns Höhen, mit halber Stimme, leise angegangen, entfalteten sich weidenkätzchenweich und sauber, seine Tiefen warm und kraftvoll wie die eines Baritons. Wie er im Lied „Die Krähe" immer zwei Zeilen auf einem Atem sang, wenn kein Komma dazwischen stand, aber sonst jedes Komma beachtete — das darf als vorbildlich gelten. Und Helmut Deutsch zeigte im Lied „Rast", wie das Klavier zugleich malt und empfindet. Im der linken Hand hörte man ein gestoßenes Stapfen, in der rechten eine gesangliche Sehnsucht nach Ruhe: „Nun merk' ich erst, wie müd' bin".

Kaufmann und Deutsch haben „Die Winterreise" gerade bei Decca (Korrektur: Sony) auf CD herausgebracht. In der Aufnahme, die einem die Stimme nah ans Ohr holt, irritieren einige Vokalverfärbungen und ein eigenwilliges Zungen-R an den Wortenden. Doch im Konzert wirkte alles stimmig. Kaufmanns Arbeit an der Sprache ist offenbar klug auf die Wirkung in großen Räumen berechnet.












 
 
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