Die Presse, 06.10.2013
von Wilhelm Sinkovicz
 
Puccini, La fanciulla del West, Wiener Staatsoper, 5. Oktober 2013
 
Der Pumuckl aus dem blechernen Westen
 
 
Nach einem Vierteljahrhundert holte man mit Nina Stemme und Jonas Kaufmann Puccinis "Fanciulla del West" wieder in den Spielplan. Regisseur Marco Arturo Marelli und Dirigent Franz Welser-Möst verbaten sich jegliche Romantik.
 
Zuletzt brachte man sich mittels idiotischer Applausordnung beinah um den Premierenerfolg. Als die Stars vor dem Vorhang erschienen, war das Publikum schon müde von den pflichtschuldigen Beifallsbezeugungen für die Komparserie. Puccini differenziert einen Chor von Goldgräbern durch subtile dramaturgische Kunstgriffe in zahllose Miniaturcharaktere. Wer zählt im quirligen Lagerleben die Völker, wer nennt nach drei Stunden die Namen?

Gewiss, man hat in Erinnerung behalten, dass Hans-Peter Kammerer wegen Falschspiels rasch davongejagt wird. Oder dass Alessio Arduini den Bänkelgesang des Jack Wallace sehr schön singt, aber aus dem Off, weil Regisseur Marco Arturo Marelli das Heimwehlied vom Tonband zuspielen lässt. Man hört, dass Boaz Daniel aus dem kleinsten Auftritt etwas machen kann, während Norbert Ernst als Wirt eine für jedermann erkennbare Rolle – natürlich sehr gut – spielt.

Am Ende der Vorstellung erscheinen sie alle, alle zum minutenlangen Defilee – und erst dann gibt es Jubel für Jonas Kaufmann, den Räuberhauptmann Ramerrez, und Tomasz Konieczny, seinen Widersacher, den Sheriff. Und natürlich vor allem für Nina Stemme, das neue „Mädchen aus dem goldenen Westen“ – das Publikum ist gekommen, um seine Lieblinge in ungewohnter Gestalt zu erleben. Die Stemme, durch und durch Brünnhilde, beweist, dass man Puccini mit derselben Durchschlags- und Leuchtkraft singen kann wie Wagner – denn die „Fanciulla“ ist eine hochdramatische Partie, der auch vom werbenden Liebespartner entsprechende akustische Morgengaben gemacht werden müssen.

Der poetische Räuberhauptmann

Jonas Kaufmann ist freilich der Mann fürs Lyrische. Wo er die Stimme ins Pianissimo zurücknehmen muss, brilliert dieser Verführer, der sich als „Dick Johnson aus Sacramento“ ausgibt. Seinen berückenden Phrasen muss die Damenwelt sozusagen mit der Unausweichlichkeit biologischer Naturgesetze auf den Leim gehen. Im Mittelakt bleibt der tenorale Offenbarungseid des Räuberhauptmanns ein wenig zart besaitet, obwohl doch die Streicher des Staatsopernorchesters, die noch im ersten Aktfinale mitgeflüstert und -geschmeichelt haben, dass es eine Balzfreude war, Gebrauch von ihren Stahlsaiten machen, provoziert von den Sforzato-Attacken ihrer Bläserkollegen, die alle so von Puccini verlangt werden.

Nirgends agiert dieser Komponist mit größer besetztem Orchester. Nirgends macht er auch so exzessiven Gebrauch von grellsten, originellsten Farbmischungen wie hier – sogar Kollege Anton Webern zollte ihm dafür Hochachtung! Welser-Möst lotet den ganzen klangdramaturgischen Rahmen dieser Partitur aus – also lässt er des Öfteren auch scharf, ja brutal artikulieren: Das ist moderne Musik anno 1910; sogar das Vibrafon, das den ersten Aktschluss subtil mit einer jazzigen Septimdissonanz überglänzt, tönt vorschriftsmäßig nicht mehr, wie gewohnt, aus dem Orchestergraben, sondern von hinter der Szene – was kitschig wirken könnte, ist ausgemerzt.

Leider auch der leidenschaftlich pulsierende Höhepunkt des zentralen Liebesduetts, in dem sich beide Stimmen auf das hohe C schwingen sollten: Die Stemme geht auch hier aufs vokale Ganze, bezwingt den tenoralen Angreifer nach Punkten, und ohne falsch zu spielen, wie danach beim Poker mit dem Sheriff, bei dem es um Leben oder Tod geht: Tomasz Konieczny macht aus Jack Rance ein faszinierendes gar nicht eindimensionales, vom Leben gezeichnetes Raubein. Er bringt Minnie alle Emotion entgegen, derer er fähig ist – und zerbricht daran, dass er wegen des feschen Inkognitoräubers abgewiesen wird.

Eine Charakterstudie, der nicht nur die Musik, sondern auch die Regie Raum gibt, die im ärmlichen Blechhüttenambiente jedes patscherte Goldgräberschicksal abzubilden versteht – aber an der Liebesgeschichte scheitert: Der Eroberer, der sich schon mit der Herzdame auf dem Boden balgt, besingt kaum mehr poetisch den „süßen Namen Minnie“. Und warum Frau Stemme akzeptiert, in unvorteilhafter Latzhose und mit Pumuckl-Frisur herumlaufen zu müssen, wird das ungelöste Rätsel dieses Wildwestkrimis bleiben. Wiens Opernfreunde leben damit gut: Als endlich die Stars vor dem Vorhang erschienen, gab es nur Jubel.












 
 
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