Badische Zeitung, 19.08.2013
Heinz W. Koch
 
Verdi: Don Carlo, Salzburger Festspiele, 13. August 2013
 
Pappano macht Verdis"Don Carlo" zum Salzburger Festspiel-Ereignis
 
Eine Sensation, vier volle Musikstunden lang
 
Wir lesen in den Salzburger Nachrichten und staunen nicht schlecht. Da schildert die Kostümbildnerin Annamaria Heinreich ihre Arbeit am "Don Carlo" der Festspiele. Wir erfahren, dass sie die Einkleidung von Giuseppe Verdis Opernpersonal ein Jahr in Anspruch nahm, dass sie in Madrid im Prado-Museum und im Escorial-Palast war und sich bis in die kleinsten Nebensächlichkeiten an Tizian, El Greco und anderen Italienern wie Spaniern orientiert hat. 650 Kostüme kamen so zustande, und für die Hellebarden-Rüstung der Statisten reiste zwecks Maßanfertigung eigens ein Kunstschmied aus Rom an. Und? Schaut man auf die Bühne, ahnt man den Aufwand und die Mühe. Vieles, allzu Vieles verliert sich indessen in den Dimensionen des Großen Festspielhauses. Man sieht es schlicht nicht. Ergo: Das wäre wohl erheblich preiswerter zu haben gewesen.

Weiter: Hätte man dem epochalen Schauspielrevolutionär Peter Stein vor 40, 45 Jahren diese Inszenierung prognostiziert – wetten, dass er einem die Justiz an den Hals geschickt hätte? Und nun ist sie da: ganz wie Verdi es sich vorstellte, im Stil Philipps II., allenthalben groß, von Ferdinand Wögerbauer in Riesenräumen mit spanischen Architekturmotiven platziert, die für die intimeren Dialoge auch mal geschickt verkleinert sind. Wir erleben: Massenbewegung, Fahnenaufzüge, etliche Routine, einiges Knowhow – und sehr viel veredelte Stehoper. Diverse kleine, fast versteckte Regie-Beobachtungen aber auch, psychologische Genauigkeit im Detail.

Und der entscheidende Moment gelingt Stein spannungsvoll, eindringlich: wie die französische Königstochter Elisabetta, die dem spanischen Infanten Don Carlo versprochen ist, sich im winterweißen, abgeholzten Wald von Fontainebleau angesichts der bitteren Armut des Volks in Kriegszeiten zur Ehe mit Carlos Vater Filippo bereiterklärt, sich spürbar verzweifelt dazu durchringt. Wie da eine große, junge Liebe der Staatsraison geopfert, von der Politik gemordet wird: Das haftet dank Peter Stein. Darauf Don Carlo, verloren im Schneesturm: Nie klang ein Jubelmarsch fürchterlicher. Und wie die Liebenden sich in der Kälte des spanischen Hofs trotz aller Isolation mitunter aneinander lehnen: Das berührt.

Also: ein paar intensive Augenblicke und weiter nichts? Beileibe nicht. Das Musikalische macht diesen Salzburger "Don Carlo" zum Ereignis. Und das auch dann noch, wenn beim Vokalen einzuräumen bleibt, dass ein so bedeutender Sänger wie Matti Salminen sich diesen nicht nur gebrochenen, sondern auch gefährlich brüchigen Filippo nicht mehr antun sollte, und wenn der Posa des oft so bewundernswerten Thomas Hampson im Lauf der Jahrzehnte bei aller Phrasierungs-Intelligenz auch hohler, reizärmer klingt als ehedem. Eric Halfvarsons Bass röhrt den Großinquisitor einschüchternd.

Zu Recht gefeiert wird Ekaterina Semenchuks explosiv ausladende Eboli – ein Mezzosopran größten Formats. Und vollends ein Traum, die lupenreine Idealbesetzung: das zentrale (Nicht-)Paar. Man kann sich nicht satthören am unverkennbaren Dauerleuchten von Anja Harteros' Elisabetta – eine wunderbare Sopranfarbe bis in die Erregung, bis in die berückende Pianissimo-Kantilene hinein. Jonas Kaufmann schließlich ist als Carlo ein Nonplusultra tenoralen Glanzes wie sensibelster Abschattierung.

Erstmals am Ort: Antonio Pappano, Chef an der Londoner Covent Garden Opera wie beim römischen Orchester der Accademia di Santa Cecilia. Welch ein Debüt! Wie er mit den phänomenal differenzierenden Wiener Philharmoniker Verdis Musik befeuert, das ist schlechterdings grandios. Das ist von kaum noch steigerbarer Klarheit in der orchestralen Zeichnung und der instrumentalen Schichtung. Da geht wirklich nichts verloren – eine Behutsamkeit sondergleichen, nirgends ein Gramm Klangfett zuviel, auch in der Aufwallung nie dick, im Pomp der Grand Opéra noch strukturiert, straff und geradezu schmerzhaft stechend im hochdramatischen Zugriff.

Eine Sensation, vier volle Musikstunden lang. Das macht: Salzburg entschied sich für die Modena-Fassung von 1886, Verdis fünfaktige Version von letzter Hand, angereichert obendrein durch Passagen, die er noch vor der Pariser Uraufführung 1867 strich. Darunter ist auch jenes Duett Carlos und Filippos, aus dem später das "Lacrymosa" des Requiems wurde. Darum: außer der Ballettmusik soviel von Verdis reichster Oper wie nie. Bloß: warum dann nicht auch im originalen Französisch, zumal Pappano sie in seiner Brüsseler Zeit aufgenommen hat – "Don Carlos" statt "Don Carlo"?















 
 
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