Stuttgarter Nachrichten, 2.4.2012
Götz Thieme
 
Bizét: Carmen, Salzburger Osterfestspiele, 31. März 2012
 
„Carmen“-Premiere bei den Salzburger Osterfestspielen
 
 
Salzburg - Mit dem fröhlich gefletschtem Grinsen eines Raubtiers, das Beute gemacht hat, drehte Andreas Mölich-Zebhauser seine Runden im Foyer. Das, was bei den Osterfestsspielen in Salzburg angesagt ist, muss den Intendanten des Festspielhauses in Baden-Baden künftig nicht kümmern. Im kommenden Jahr spielen die Berliner Philharmoniker und Simon Rattle bei ihm auf. Arbeit werden sie ihm machen, denn das Orchester hat ambitionierte (und kostspielige) Pläne, für die Salzburg nicht mehr der passende Ort zu sein schien, obwohl die öffentliche Hand das Festival mit acht Prozent unterstützt. Subventionen gibt es für Mölich-Zebhauser nicht, da kommt was auf ihn zu.

Seit 1967 waren die Philharmoniker in der Karwoche und zu den Osterfeiertagen in der Stadt gewesen. Die von Herbert von Karajan begründete Tradition geht nun zu Ende. Zum 45. und letzten Mal treten sie hier auf. Vor knapp einem Jahr gab das selbstbewusste Orchester den Wechsel bekannt. Nach dem Schock haben sich die Salzburger rasch getröstet. Wieder mit Deutschen. Die Staatskapelle der Partnerstadt Dresden wird nun zu Ostern von der Elbe an die Salzach wechseln, ihr Chefdirigent Christian Thielemann übernimmt die künstlerische Leitung. Für die immer ein bisschen gelangweilt wirkende Klientel wohl ein Segen: Mit Christian Thielemann sind Regiezumutungen auszuschließen.

Das Tempo geht Rattle ein wenig forsch an.

In einem Jahr gibt es thematisch passend „Parsifal“-Karfreitagszauber – das wiederum ist eine feine Pointe, denn mit seiner Kritik an diesem letzten Werk („weihrauch-düftelndes Sinne-Reizen“) besiegelte Friedrich Nietzsche den Bruch mit Richard Wagner. Das Gegengift, die „ironische Antithese gegen Wagner“, hatte der Philosoph in Georges Bizets „Carmen“ entdeckt. Und die gab es nun zum Finale der Berliner in Salzburg. Auch wenn Nietzsche später seine Bemerkungen zu „Carmen“ unernst verstanden wissen wollte, an ihnen ist etwas dran: „Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie ist reich. Sie ist präzis. Sie baut, organisiert, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur ‚unendlichen Melodie‘.“

Nicht jeder hat das verstanden: Selbst der polyglotte Karajan unterfütterte die „Carmen“ mit allzu satten Klängen. Simon Rattle machte sich auf den richtigen Weg, blieb dann aber auf halber Strecke stecken. Schlanker, trockener im Ton als beim Vorvorgänger war das allemal, und natürlich wurde die Dialogfassung gewählt (allerdings auf ein Minimum verknappt). Doch andere Manierismen drohten, beispielsweise eine allzu scheppernde Ungezügeltheit, die sich als Temperamentsgeste ausgab in den Tänzen, dazu im letzten Akt beim Aufmarsch vor der Arena völlig überhitzte Tempi. Rattle gab den Aufpeitscher nicht immer mit der Feinjustierung, die nötig gewesen wäre: Viele Tuttischläge waren nicht bis aufs Hundertzehntel zusammen. Doch sonst: ein Orchesterfest. Besonders die Holzbläser zeigten die Klasse der Philharmoniker. Angeführt von Andreas Blau (Soloflötisten von solchem Persönlichkeitskaliber sind selten geworden) traten sie als sprechende Charaktere auf und begleiteten unsichtbar die Protagonisten auf ihrem Weg ins Verderben.

Die Regisseurin ist nur an den Tänzern interessiert

Obwohl die Bühne von Tänzern und Statisten reichlich zugestellt ist, leidet die ­szenische Sprache unter Auszehrung. Von konventioneller Personenregie ausgeleiert, ergibt sich kein Magnetismus zwischen den Figuren: Erotik, Eifersucht, Liebe, Hass – alles nur gespielt. Jonas Kaufmann als Don José ist in bester stimmlicher Verfassung, seine Arie im zweiten Akt beschließt er mit einem Pianissimo-B, wie es sein soll, er lässt den Ton an- und abschwellen. Wen sein gaumiges Timbre nicht stört, wird ihn den besten Rollenvertreter diesseits des romanischen Schmalzroutinetums nennen. Als Darsteller hält er sich an Oberstufen-Theater-AG-Gestik. Die Regie führende Choreografin Aletta Collins ist mehr damit beschäftigt, ihre Tänzer zu arrangieren, die Vor- und Zwischenspiele mit einem Drittaufguss von Flamenco-Gestampfe-und-Juchhe zu stören.

Zuwendung hätte Kostas Smoriginas als Escamillo gebrauchen können, einen Tipp, wie die erotische Invasion eines Toreros aussehen könnte – so blieb eine auch vokale Leerstelle. Von allgemeiner Gedankenarmut der Produktion unbeschädigt blieb Micaëla, Bizets Kontrabild zu Carmen. Gegenüber der Femme fatale ist sie eine geklärte Seele von Frau, gleichwohl Genia Kühmeier zeigt, dass in ihr Passion schlummert, grandios in der großen Arie im dritten Akt entäußert – vokal die überzeugendste Leistung des Abends. Diese in der dramaturgischen Konstellation passive Figur hat es leicht, gegen die Verhärtung der Theaterpraxis Kontur zu gewinnen, während Carmen selbst in Klischeekunstharz gegossen scheint.

Dieses Spiel funktioniert nicht auf großer Bühne

Magdalena Kožená tat bei ihrem Rollendebüt viel, um sich aus diesem Gefängnis zu befreien: gegen die Regisseurin, die ihr schlecht geraten hatte, die Hände an die Hüften zu pressen (lasziv!), sich die Brüste zu kneten (sexy!) und im Schritt herumzufummeln (heiß!); auch gegen die Natur ihrer nicht großen Mezzosopranstimme und gegen eine fragile Körperlichkeit. Barfuß kommt sie daher, die Zehen rot lackiert, eher niedlich als frech. Schlicht das blaue knielange Kleid, die Haare karottenrot. Auratische Kälte umgibt sie erst im Schlussduett, wenn sie – nun auf hohen Absätzen – Don José und damit dem Tod entgegentritt.

Mehr einer Skizze gleicht Koženás Coolness am Anfang, das Spiel mit dem Herzen der Männer ist auch eines mit den Tonhöhen, die den Klangfarben, dem gar nicht so falschen Chansonton geopfert werden. Solche Absicht, so eine Darstellerin aber braucht Intimität, die auf der Salzburger Riesenbühne kaum entsteht. Kožená hätte wunderbar zu Peter Brooks genialer „Carmen“-Kammerversion gepasst, die vor mehr als einem Vierteljahrhundert der Oper die Lakonie und Härte von Mérimées Novellenvorlage implementierte.

Die Ahnung des Möglichen bekam man in der Auseinandersetzung mit Don José, der zurück in die Kaserne gerufen wird. Wie Kožená den in der Zwinge zwischen Pflicht und Neigung sich Verteidigenden im Gesangston nachäfft – „Au quartier! Pour l’appel!“ –, hatte den ätzenden Ton, über den sich der Charakter der Carmen aufschließen ließe. Die Tür aber blieb ungeöffnet, die Frage unbeantwortet, ob diese Oper wirklich ein „tragische Liebesgeschichte“ ist, wie der Salzburger Musikwissenschaftler Jürg Stenzl behauptet, oder diese Figur jedwede (romantische) Vorstellung von tragischer Liebe unterläuft. Carmen bewahrt sich eine emotionale Unversehrtheit, die sie im männlichen Blick des 19. Jahrhunderts (der vom heutigen nicht so sehr verschieden ist, so ist zu befürchten) zum Skandal werden lässt – zu viel weibliche Selbstbestimmung und Freiheit! Das hätte man gerne gesehen.














 
 
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