Salzburg. Puccini feierte seinen Einzug in den Salzburger Festspielen
grandios. Bislang als irgendwie unwürdig eingestuft und nie auf dem
Spielplan gesetzt, ist „La Bohème“ seit der Premiere vor wenigen Tagen das
unbestrittene Highlight der diesjährigen Salzburger Sommerspiele. Und das,
obwohl Regisseur Damiano Michieletto mit Bühnenbildnerin Carla Teti eine
Interpretation präsentiert, die viele Traditionalisten verstört.
Liliputanisch klein wirken die Sänger vor dem bühnengroßen, mit Tau
beschlagenem Fenster mit dem riesigen Griff, verloren vor dem ebenso großen
hochgezogenen Straßenplan, auf dessen dreidimensionalen Häuschen sich die
Sänger platzieren, umringt vom Weihnachtseinkaufsrummel verwöhnter Kinder,
umso einsamer in der kalten Stille nächtlicher Neonillumination.
Michieletto weitet die Pariser Bohèmeszene auf das globale Umfeld heutiger
Jugend zwischen maßloser Konsumgier und Verlorenheit in urbaner Hässlichkeit
aus. Grandios wie in einem Film zeigt das dritte Bild zwischen
Straßenszenerie, verschmutztem Schnee und Frittenbude die Tristesse der
Vereinsamung. Ein Partymädchen stöckelt betrunken durch den Schnee, Mimi
schleppt sich durch den Schnee. Sie hustet nicht, erzählt nur librettogemäß
davon. Nein, diese Mimi hat nicht die Schwindsucht, sie leidet an den Folgen
eines ausschweifenden Lebens zwischen Alkohol, Nikotin und Vereinsamung.
Rudolfo verduftet sich schnell, seine Männerkumpanei, durch eine
Kissenschlacht ins Kindlich-Naive transportiert, ist ihm wichtiger. Mimi
stirbt nicht in seinen Armen bei Kerzenromantik, sondern im grellen
Tageslicht allein auf der versifften Matratze inmitten einer trashigen
Bühne. Die anderen stehen abseits und sehen entsetzt zu. Die unbeschwerte
Jugendzeit endet.
Das ist stimmig, mutig und funktioniert, weil
Sänger und Orchester unter der Leitung von Daniele Gatti Puccini großartig
interpretieren. Dass Jonas Kaufmann in der zweiten Vorstellung
innerhalb einer Stunde den sängerischen Part für den indisponierten Piotr
Beczala übernehmen musste, brachte keinerlei Einbußen. Leidenschaftlich
durchglüht, mit charismatischem Timbre vermitteln Kaufmann und Anna Netrebko
Puccini pur.Mit dieser selbstbewussten Rocker-Mimi setzt Anna
Netrebko ähnlich wie als Violetta in Verdis „La Traviata“ neue Maßstäbe
und im Duett mit Jonas Kaufmann erstrahlt ein neues Sängertraumpaar.
Jede Arie, jedes Duett tief ergreifend, auch ohne die übliche romantische
Bohème-Atmosphäre. Erstklassig, wenn auch mit kleinerem Part,
singen und agieren Nino Machaidze als Musette und Massimo Celalettin als
Marcello, wunderbar geschmeidig, mit durchdringendem Schmelz in der Tiefe
Carlo Columbara als Colline.
Daniele Gatti lässt mit den Wiener Philharmonikern Puccinis
tonale Welt aufleuchten und integriert Jonas Kaufmann, der schlicht an der
Seite singt, so selbstverständlich, als wäre alles so eingeplant.
Glasklar kristallisiert Gatti die Stimmungswechsel zwischen vehementer
Lebensgier, frühlingshafter Zartheit und hoffnungsloser Sehnsucht heraus.
Er begrenzt die weichen Melodielinien mit klaren Akzentuierungen, spürt
dem quirligen Dialog der Instrumente nach, treibt die Tempi voran, wagt
kräftige Forte und Tutti, überstrahlt von Anna Netrebkos einzigartiger
Stimme, durchglüht von betörender Innigkeit in allen Tonlagen,
leidenschaftlich weich und samtig.
Anna Netrebko schenkt Salzburg eine heutige Mimi, der Regisseur eine neue
Sichtweise von „La Bohème“ und Paolo Fantin gelingt ein cineastischer
Realismus, der regelrecht nach der Erlösung durch Puccinis
leidenschaftlicher Musik lechzt.
|