Erneut können sich die Hörer ebenso beglückwünschen wie posthum
das Geburtstagskind Franz Liszt, sind doch nun Werke zu erleben,
die bisher oft vernachlässigt wurden. Warum eigentlich?
Die
Schublade des legendären Klaviervirtuosen, in die Liszt gesteckt
wurde, ist für diesen hochbegabten Allround-Musiker viel zu eng.
Dass er auch ein großartiger Komponist und seiner Zeit weit
voraus war, beweist dieser Abend unter der engagierten
Stabführung von Daniel Barenboim. Mit der gleichfalls begeistert
aufspielenden Staatskapelle Berlin bringt er Liszts Klangfarben
intensiv zum Leuchten.Ihm zur Seite der Startenor Jonas Kaufmann
und der Staatsopernchor unter Eberhard Friedrich.
Den
Anfang macht Franz Liszts „Psalm 13, Herr, wir lange willst du
meiner so gar vergessen“ (Zweite Fassung) für Tenor, gemischten
Chor und Orchester von 1855. Erst traurig und zurückhaltend,
dann zunehmend drängender artikuliert Kaufmann dieses „Herr, wie
lange willst du meiner so gar vergessen?“ Der Chor mischt sich
ein, alterniert, unterstützt vom Orchester, mit dem Solisten.
Beim „Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?“
wird die Bitte fast zur Forderung und entsprechend wechselt die
Stimmung des Stückes, das eigentlich nur ein Hauptthema besitzt,
das ständig abgewandelt und dem Text entsprechend „eingefärbt“
wird.
Immer sicherer zeigt sich der Klagende, dass sein
Gebet erhört wird. Musikalisch spornen Solist, Chor und
Orchester einander wirkungsvoll an. Die Hoffnung auf Gnade
mündet in Zuversicht und kumuliert – nach Einbau einer Fuge - in
der hymnischen, beinahe opernhaft gestalteten Schlusszeile: „Ich
will dem Herrn singen, dass er so wohl an mir getan.“
Kaufmann singt das mit spürbarer Anteilnahme, muss aber die
hohen Töne vorsichtig ansetzen. Im Verlauf glänzt er mit Schmelz
und Belcanto, zuletzt mit Jubeltönen. Auch das Publikum jubelt.
Wie farbenprächtig Liszt auch in weit größerem Rahmen und
mit einem großen Orchester arbeiten konnte, zeigt das folgende
Werk, das genau wie der Psalm in seiner produktiven Weimarer
Zeit entstanden ist: „Eine Faust-Symphonie für Tenor, Männerchor
und Orchester“. Erstdruck 1861. Goethes Faust-Dichtung hat Liszt
- und nicht nur ihn - jahrelang sehr beschäftigt. Auch und
gerade Hector Berlioz, seinen Impulsgeber.
Liszt fährt in
dieser Sinfonie 70 Minuten lang alle musikalischen Geschütze
auf. So, als wollte er dartun, dass er keineswegs nur ein
Starpianist und Komponist von Klavierstücken ist. Beim Hören
dieses Werkes steht das außer Zweifel. Es wirkt regelrecht
raffiniert, mit welchen Klang- und Tempo-Varianten er unsere
Ohren erfreut oder konfrontiert. Das ist „große Oper“.
Liszt hat diese Sinfonie in drei Teile gegliedert: Faust,
Gretchen und Mephistopheles. Fausts vielfach gespaltene
Persönlichkeit hat ihn offenbar am meisten interessiert. Ihn
charakterisiert er mit fünf Motiven. In den lyrischen Passagen
meint man, Fausts Osterspaziergang mitzuerleben, in anderen
bereits die Gefahr einer Höllenfahrt und seine schließlich
Errettung.
Das Orchester folgt jedem Wink Barenboims, der
sich mit viel Temperament dieser schillernden Partitur annimmt.
Das wunderbare Legato der Contrabässe ist ebenso auffallend wie
das Singen der Holzbläser, die den Gretchen-Teil innig
begleiten. Liszt zeichnet ausgiebig und mit spürbarer Zuneigung
dieses unschuldige Mädchen.
Mephistopheles kommt dagegen
gar nicht gut weg. Der erhält keine eigenen Motive, er muss sich
mit den fratzenhaft verzerrten, dissonanten Faust-Motiven
begnügen. Für die damaligen Zuhörer war speziell dieser 3. Teil
eine unerhörte Zumutung. Liszt als Wegbereiter der Moderne –
hier wird es besonders deutlich. Barenboim und die Staatskapelle
explodieren bei diesem Höllenszenario. Nur gelegentlich kommen
reine Faust- oder Gretchen-Motive ins irrwitzige Geschehen.
Zuletzt schweigt das Chaos und alles wird gut. Der Chor
bringt zusammen mit Kaufmann und dem Orchester die von Liszt
feierlich gestalteten Schlussverse aus Faust II: „Alles
Vergängliche ist nur ein Gleichnis“
Goethes Fazit, „das
Ewig-Weibliche zieht uns hinan“, wird von Liszt besonders
ausgemalt und immer mehr gesteigert. Eine grandiose und grandios
dargebotene Himmelfahrt. Der Applaus will danach gar nicht
enden.