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Der Tagesspiegel, 16.05.2010 |
Christine Lemke-Matwey |
Brahms: Rinaldo-Kantate, Konzert in der Philharmonie
Berlin, 14. Mai 2010
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Ferne Düfte
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Ein Luftgeist und seine mythischen Heerscharen: Claudio Abbado bei
den Berliner Philharmonikern |
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Alle singen und spielen im Frack: Nur Claudio kommt im Anzug. Für die
meisten Interpreten des Abends – die Philharmoniker, die durch die Herren
des Bayerischen Rundfunks verstärkten Herren des Rundfunkchors Berlin und
den Tenor Jonas Kaufmann – dürfte es die erste (und letzte?) Begegnung mit
Johannes Brahms’ juveniler Chorkantate „Rinaldo“ gewesen sein: Nur Claudio
soll sie vor 30 Jahren schon einmal wiederbelebt haben. Und also klammern
sich alle an ihre Noten: Nur Claudio dirigiert auswendig, mit lang und
länger werdenden Armen, ein Enthusiast, ein Luftgeist, als gäbe es nichts
Schöneres, als solche mythischen Heerscharen zu befehligen. Der Jubel ist
ihm sicher, und das liegt nicht nur am Finalgetöse, wenn der liebestolle
Kreuzritter Rinaldo dem Bann der Zauberin Armida entronnen ist und nach
allerlei textlichen wie musikalischen Umstandskrämereien den Weg zurück ins
gelobte Land findet. („Wunderbar sind wir gekommen,/ Wunderbar
zurückgeschwommen“, dichtet Goethe hier.)
Claudio Abbados philharmonische Programme haben zuletzt kaum etwas an
Seltsamkeit vermissen lassen. Es scheint, als wolle der Italiener Berlins
späte Liebe und Treue zu seiner Person immer wieder neu auf die Probe
stellen. Und Stadt, Orchester, einheimisches wie auswärtiges Publikum halten
tapfer mit, das wäre ja gelacht. Diesmal richtet sich Abbados Focus auf
Vokalwerke von Schubert, Schönberg und Brahms, auf das Dichterwort in seiner
exzessiven klanglichen Ausstülpung und symphonischen Gestalt. Als
ästhetische Quersumme ist das interessant: Plötzlich sind die von Max Reger
und Hector Berlioz orchestrierten Schubert-Lieder vom frühen Schönberg bloß
noch ein paar Harmonien entfernt; und bei Brahms wurzelt, so begreift man,
was das Lied in die Expansion trieb: das bürgerliche Musikleben selbst, der
Tatendurst der allüberall aus dem Boden schießenden Singakademien und
Cäcilienvereine. „Rinaldo“ übrigens geht auf ein Preisausschreiben der
Aachener Liedertafel von 1863 zurück ...
Fabelhaft, wie konzentriert Abbado führt. Entströmen dem Orchester bei
Schubert/Reger („Gretchen am Spinnrade“, „Nacht und Träume“) ferne Düfte, so
springen bei Schubert/Berlioz („Erlkönig“) die Muskeln und Bogenhaare.
Abbados Schönberg-Ton ist facettenreich und sehr naturverbunden, nie
esoterisch, nie nur opulent. Schade, dass die junge holländische
Mezzosopranistin Christianne Stotijn sich der Sache so wenig gewachsen
zeigt: Die Miene angestrengt, die Kehle oft wie zugeschnürt, das Timbre mal
gurgelnd, mal blechern – eine Frage der Nerven?
Auch Jonas Kaufmann mag sich in seiner Rinaldo-Haut nicht richtig
wohlfühlen. Vielleicht ist diese zwischen Reflexion und opernhafter Outrage
schwankende Partie gar nicht zu durchdringen. Trotzdem setzt Kaufmann ihr
ein paar Glanzlichter auf und erfüllt, wo der biedermeierliche Bilderbogen
es gestattet, die Musik mit Seele, mit Sentiment („Zum zweiten Male“). Und
das Bataillon der fulminanten Männerchöre versichert ihn und uns, spätestens
bis zu Abbados nächstem Gastspiel: Es geht doch nichts über eine
eingeschworene Gemeinschaft.
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