Zumindest
in den beiden Grals-Opern wurden den Bayreuth-Besuchern rätselvolle,
geheimnisträchtige Inszenierungen geboten, die wesentliche Fragen aufwarfen
- ganz im Sinne des Dichterkomponisten, aber trotz optischer Verfremdung die
Grundaussage unangetastet ließen und sich vor allem der Musik verpflichtet
zeigten. Jedes Ideenangebot der Regisseure Neuenfels und Herheim ist
diskutierenswert. Bei „Parsifal" auch noch im 3. Jahr! Katharina Wagners
„Meistersinger"-Version hingegen wird, nachdem das Schock-Erlebnis
abgeklungen ist, immer langweiliger. Die „Ring"-Produktion nach Tankred
Dorst bewegt sich zwischen Mythos und Realität. Sehr gelungen ist, wie im
Vorjahr der „Holländer", die Kinder-Fassung von „Tannhäuser". Das
sängerische Niveau hebt sich langsam wieder - da gab es keine wirklichen
Fehlengagements mehr. Mit Andris Nelsons erlebte man einen sensationellen
Jungdirigenten auf dem Grünen Hügel. „LOHENGRIN" 3.8. Allen
Befürchtungen und Skandalmeldungen zum Trotz entpuppte sich diese
Neuinszenierung nicht nur als hochinteressant und sinnvoll, sondern auch
weitgehend ästhetisch, mit guter Personenregie und viel
Entfaltungsmöglichkeit für die Sänger.
Klinisch sauber ist das Labor
mit seinen weißgrauen Wänden, das im Lauf des Abends aus Ratten nach und
nach Menschen macht. Geklonte - wie sie sich jeder Machthaber wünscht, um
sie sich gefügig machen zu können. In diesem Fall gleichen sich sächsische,
thüringische und brabantische „Edle" aufs Haar - oder viel mehr mit ihren
gelben Rattenkrallen anstelle von Händen und Füßen. Damit können sie nur
zappeln und trippeln, was sie eher bedauernswert und mitleiderregend als
brutal und abstoßend macht - zumal, wenn sie derart schön singen. Chorleiter
EBERHARD FRIEDRICH erweist sich als würdiger Nachfolger von Wilhelm Pitz und
Norbert Balatsch. Ein musikalisch so feinsinnig agierender und reagierender
Heerbann sichert ja schon von vornherein der Geschichte vom Wundermann mit
dem Schwan die Glaubwürdigkeit. Wer mit solcher Klangschönheit, solch
wohldurchdachten Worten und solch geballter Kraft besungen wird, muss ein
übermenschliches Wesen sein. Dem Gralsritter wird dankenswerterweise, wie
die Musik es vorgibt, seine Mittelpunktstellung und sein Sonderstatus
belassen. Die Rattenfrauen, die Elsas Gang zum Münster in roten, orangen und
hellgrünen Cocktailkleidern begleiten, kommen trotz ihrer langen
Rattenschwänze, die von den Herren liebkost werden, überaus diszipliniert in
Zweierreihen daher, die Rattenkinder, deren einige sich etwas zu spät
einreihen, werden freundlich belächelt. Nur der scheußliche Embryo-Knabe,
der am Ende der Oper einem riesigen Schwanenei entsteigt, seine Nabelschnur
zerreißt und wütend von sich schleudert, erweckt keine Sympathien, sondern
versaut das Finale. Die Erklärung, dass das eine im Laboratorium misslungene
neue Menschenkreation ist, ändert nichts an der ungustiösen Tatsache.
Irgendwo muss ja HANS NEUENFELS ausufern, um seinem Ruf als Neuerer um jeden
Preis gerecht zu werden - ein Schicksal, das er mit Konwitschny teilt, der
auch in seinen besten Arbeiten Schlagzeilen-trächtige Fehltritte nicht
unterlassen kann. Wie gut, wenn man Gelegenheit hat, sich solchermaßen in
Verruf geratende Produktionen selber anzuschauen.
Freilich fragt man
sich: Warum ausgerechnet diese Tiere? Weil es „die" Labortiere sind? Das
„Klonen" ist ja vielleicht nicht die einzige Assoziation. Sind Ratten
besonders gut dressierbar, vermehrbar, handhabbar. . .Warum nicht Schafe,
Ameisen, Bienen...!? Möglicherweise sind Chorsänger als Ratten am
effektvollsten kostümierbar.
Auf ganz andere Weise als Claus Guths
Wiener „Tannhäuser" ist der neue Bayreuther „Lohengrin" einer Traumwelt
verpflichtet. Dort wie da wird das Mittelalter ausgeklammert - keine Burg,
keine Rüstungen, kein Waffengeklirr, statt der Helme seltsam gitterartige
schwarzmetallene Kopfbedeckungen. Nur im Zweikampf zwischen Lohengrin und
Telramund kommen Schwerter zum Einsatz - Theaterrequisiten. Auch alle
sonstigen Aktionen finden real statt. Ein etwa lebensgroßer Schwan wird als
Zugtier des Gralsritters von Ratten herein getragen. Am Ende des 1. Akts
bleibt ein solcher gerupfter Vogel über der Szene hängen. Im 2. Aufzug
entsteigt Elsa einem Glaskubus und streichelt einen Porzellansschwan, dem
Ortrud den Hals brechen will, aber daran von Lohengrin gehindert wird.
Ratten transportieren das dunkle Paar von der Bühne ab.
Für die
Brautgemachszene wird aus dem Hintergrund ein weiß überzogenes Doppelbett
auf die Bühne gerollt, das nach Elsas fataler Frage wieder unseren Blicken
entgleitet. Lohengrin und Elsa, zunächst von einem sichtbaren Brautchor,
bestehend aus Rattenpaaren, besungen, benehmen sich dann als normale
Menschen: Er nähert sich ihr mit ganz natürlichem männlichem Begehren, sie
erwehrt sich dieser Annäherungen, weil sie ja erst wissen will, mit wem sie
es zu tun hat.
Dass nach dem Erscheinen des embryonalen Gottfried,
nach Ortruds und Elsas Verschwinden und dem Abgang der zu Menschen mutierten
Ratten, Lohengrin allein auf der Bühne zurückbleibt, macht Sinn: Die Frage,
was mit ihm nun geschieht, bleibt offen - wie ja auch der musikalische
Schluss der Oper. Die Lichtgestaltung durch FRANCK EVIN ist nicht gerade die
inspirierteste, hat aber ein großes Verdienst: die Sänger sind immer
deutlich zu sehen.
Filmeinspielungen von unterschiedlicher
Notwendigkeit ergänzen das optische Angebot. Hauptdarsteller sind auch da
die Ratten. Rote, grüne und orangefarbige gehen aufeinander los. Zu der
Chorszene „für deutsches Land das deutsche Schwert" flüchtet ein Heer von
tausenden Ratten in panischer Angst vor einem rasenden Kampfhund, von dem
schließlich das Skelett gezeigt wird, das langsam zerbröselt. Das geht unter
die Haut. Die insgesamt recht dezent gestaltete Bühne (REINHARD VON DER
THANNEN zeichnet für die gesamte Ausstattung verantwortlich) lässt Raum für
das Hauptereignis des Abends - die musikalische Wiedergabe.
Man hatte
den Eindruck, ANDRIS NELSONS habe die Produktion entscheidend mitgestaltet,
denn seine sensible, gänzlich unplakative „Lohengrin"-Interpretation hat
jugendlichen Schwung, Leichtigkeit, Transparenz und be geistert vor allem
durch sein liebevolles Ausmusizieren aller Gefühle, die Richard Wagner
seinen Geschöpfen mit auf den Lebensweg gegeben hat. Ich schreibe hier,
wohlgemerkt, über die 1. Reprise, nicht über die im Radio übertragene
Premiere, in der es noch manche Unausgeglichenheit zu hören gab. Das
Vorspiel zum 1. Akt war mir auch in der entspannteren 2. Vorstellung in
seiner versuchten Entrücktheit klanglich zu wenig tragfähig, aber alles
Folgende hatte eine ganz persönliche und doch Wagner-gerechte „Sprache". Die
szenisch nicht realisierte historische Rahmenhandlung, von Wagner im 10. Jh.
angesetzt, wich in dieser Aufführung auch musikalisch einer Utopie oder,
wenn man will, einer Traumhandlung, in der Tierisches und Menschliches auf
seltsam wunderbare Weise Gestalt annahm. Der Ritter, den Elsa herbeiträumt,
naht mit beinah zärtlichem musikalischem Gestus, „die Krone trage er" wird
zur vorweggenommenen Liebeserklärung. Alles Trompetengeschmetter, das die
Anti-Nationalisten auf den Plan rufen könnte, erklingt mit Noblesse,
gekämpft wird „mit feiner Klinge", „ritterlich" im positiven Sinn, ein
Verhalten, wie es von einem „gentleman" heute noch erwartet wird. Die
breiten lyrischen Bögen (Elsas Brautzug!) werden nicht zelebriert, sondern
von den Instrumenten „gesungen", ebenso wie die vehementen dramatischen
Akzente, etwa in der Szene Telramund-Ortrud, die das Bühnengeschehen
vorwärts treiben und Entscheidungen herbeiführen. Zügig, ohne unnötige
Härten, spielt sich der Zweikampf Lohengrin-Telramund ab, mit kompaktem
Klang schlägt uns das Orchester bei Friedrichs Verzweiflungsausbrüchen und
Ortruds Rachetiraden in Bann, mysteriös, vom ff ins pp zurückgenommen,
klingt der düstere Zwiegesang „Der Rache Werk", „In Früh'n versammelt uns
der Ruf begeistert durch die freudige Bewegtheit, wobei aber auch hier ein
gewisser „Traumton" gewahrt wird. Der Zauber wirkt weiter... „Heil ihm" hat
nichts mit fanatischer Huldigung eines Führers zu tun, statt „zum Führer sei
er euch ernannt!' wird „Schützer" gesungen, die Passage von „des Ostens
Horden", die „nimmer nach Deutschland ziehen" sollen, ist gestrichen.
„Lohengrin" ist in dieser Wiedergabe - wie es sein soll! - kein Drama der
Gewalt. Die Gralserzählung endet musikalisch nicht triumphierend, sondern
die weich intonierenden Trompeten und Posaunen wahren das Geheimnis des
Grals.
In diesen musikalische „Konzept" sind die Sänger
optimal integriert. JONAS KAUFMANN ist, auch in weißem Hemd und schwarzer
Hose, ohne ritterliches Zubehör, der „Wundermann" von Anbeginn. Wie aus
einer anderen Welt klingt sein Dank an den Schwan, in einem mystischen
Piano, das seinem dunkel timbrierten Tenor besonders gut ansteht, in ruhigem
Gleichmaß durchgehalten. Umso überwältigender sein Eintritt in die
Wirklichkeit: „Heil König Heinrich!" hat eine derartige männlich-tenorale
Strahlkraft, dass nicht nur Elsa angesichts von so viel vokalem Heldentum
ausflippt! Aber Kaufmann bleibt ein tragischer Held. Das ganz verhalten
ausgesprochene Frageverbot, auch bei der laut stärkeren Wiederholung,
enthält großes Bedauern über diese Notwendigkeit. Bezwingend singt er „Komm,
lass in Freude dort diese Tränen fließen!", aber dann „In deiner Hand, in
deiner Treu" mit weichem, unsäglich traurigem Ton, wissend, was kommen wird.
Alle möglichen stimmlichen Nuancen kommen im Brautgemach zum Einsatz. Er
agiert da ganz menschlich als ein Liebender, der - leider psychologisch
ungeschickt - alle Mittel einsetzt, um die Frau seiner Wahl fraglos für sich
zu gewinnen bzw. sich zu erhalten. „Oh Elsa, was hast du mir angetan" bringt
allen Schmerz dieser Welt zum Ausdruck. Der nach dem abermals entrückten,
aber nun noch viel traurigeren Schwanenlied in gedämpftem blauem Licht
einsam auf der Bühne zurückbleibende Held berührt uns gerade dadurch
menschlich ganz besonders. Eine großartige Leistung des hochintelligenten
Sängers! ANNETTE DASCH, in weißem Hosenanzug mit Pfeilen im Rücken
und an der Brust, die Lohengrin ihr dann einen nach dem anderen herauszieht,
unter schmerzlichen Zuckungen ihrerseits, hat für die Elsa den passenden
Unschuldssopran. Insbesondere im 1. Akt gerät die Stimme jedoch an ihre
Grenzen, erkennbar an einem Vibrato, das bei zu viel Krafteinsatz hörbar
wird. Im weiteren Verlauf des Abends kann sie sich freisingen und im
Brautgemach die Stimme aufblühen lassen. Mehr Farbe wäre ihr dennoch zu
wünschen. Im pompösen weißen Kleid sieht sie im 2. Aufzug sehr gut aus. Dass
das frisch getraute, nunmehr getrennte Paar im 3. Akt ganz in Schwarz
auftritt, während die vorher „schwarze" Ortrud in Weiß daherkommt, kann als
symbolisch akzeptiert werden, tut seiner Schönheit aber natürlich Abbruch.
Der fulminanten, jedoch mit unschöner Stimme mehr schreienden als
singenden Ortrud von EVELYN HERLITZIUS steht als Bühnengemahl mit HANS
JOACHIM KETELSEN (statt des vorgesehenen Lucio Gallo) ein bewährter
Wagner-Recke mit exzellenter Diktion (aus der legendären Dresdner Schule!),
voll unforcierter Kraft, vokal ausgeglichen, mit blendender Höhe, gegenüber.
In ihren glänzenden Ledergewändern machen die beiden auch optisch Eindruck
und dürfen sich rollengerecht auf der Bühne in Rage spielen. Die 4 „Edlen"
sind es auch stimmlich: STERFAN HEIBACH, WILLEM VAN DER HEYDEN, VAN DER
HEYDEN, RAINER ZAUN und CHRISTIAN TSCHELEBIEW.
Eine weit führendere
Rolle als gewohnt darf der Heerrufer in dieser Inszenierung übernehmen. Mit
wunderschöner, bestens fokussierter Baritonstimme und dominierender
physischer Präsenz verkündet SAMUEL YOUN (mit zu Berge stehenden Haaren)
seine Botschaften in vorbildlich klarem Deutsch. Als wichtigtuerischer
„Spruchsprecher" ist er offenbar dazu engagiert, den (Ratten) Heeren alle
wichtigen Anweisungen zu geben, für die der weit noblere König nicht
zuständig ist. Während alle anderen Hauptpersonen im besten Sinn
traditionell geführt sind, hat der Regisseur hier umdisponiert. König
Heinrich ist nicht der selbstsichere Herrscher, der fest in sich ruhend
souverän seine politischen und humanen Entscheidungen trifft (wie ihn an
gleicher Stelle zuletzt Manfred Schenk so überzeugend verkörperte), sondern
in Gestalt von GEORG ZEPPENFELD ein hagerer, schwarz gekleideter, von
Zweifeln geplagter Mann, der nicht einfach irgendwelche Anordnungen geben
will. Die Krone, die ihm das Schicksal aufs haarlose Haupt gesetzt hat,
nimmt er auch mal ab, zerknautscht sie oder wirft sie weg. Einmal stolpert
er sogar und fällt zu Boden. Auf einen Bildschirm wird eine Schrift
projiziert, dass er die Wahrheit zu verkünden gedenkt. Davon allerdings
kündet auch der noble Bass des relativ jungen Sängers. Er besitzt die
geforderte stählerne Höhe und die sonore Tiefe und intoniert seine
gewichtigen Aussagen in bestem kantablem Legato, das dem deutschen König
letztlich doch die Sonderstellung sichert, die Wagner ihm zugedacht hat. Das
Königsgebet „Mein Herr und Gott, nun ruf ich dich`; mit solcher Überzeugung
gesungen, wird nicht von ungefähr mit der größten Selbstverständlichkeit vom
gesamten Vokalensemble übernommen. Auf diesen vorzüglichen deutschen
Bassisten hat Bayreuth gewartet.
Man kann sich den neuen Bayreuther
„Lohengrin" also getrost anschauen und anhören.
|