Frankfurter Rundschau,  26. Juli 2010
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 25. Juli 2010
Planet der Ratten
 
Ratten im Lohengrin: Das hatte sich früh herumgesprochen. Aber die Inszenierung erscheint insgesamt eher weise als provokant.
 
Die Sache mit den Ratten in der Bayreuther Eröffnungspremiere hatte sich früh herumgesprochen: Ratten im Lohengrin, also sowas! Sie sind übrigens durchaus niedlich in ihren schwarzen und weißen Kostümen mit Rückennummern, mit ihren langgliedrigen Händen und Füßen, ihren leuchtend roten Augen auf transparenten Köpfen, ihren tapsig-mühsamen rattigen Bewegungen, ihrer kollektiven teilnehmenden Neugier, ihrem Untertanen-Gehabe.

Sie sind Gefolgschaft und Publikum allen Geschehens und oft auch Täter, sie sind Objekte und Subjekte des Experiments, das den Titel „Lohengrin“ trägt und Daten zu einigen grundlegenden Verhaltensweisen ihrer Spezies sowie der Spezies Mensch liefern soll. Manchmal muss Laborpersonal in Schutzanzügen die Ordnung wieder herstellen, denn Ratten neigen als Masse zu eigenwilliger Unordnung. Manchmal entkommen einige von ihnen, und bald dämmert dem beklommenen Zuschauer, was sie dann machen: Sie pflanzen sich fort und vermischen sich mit anderen Gattungen! In einem fortgeschrittenen Stadium des Experiments haben Menschenmädchen Rattenschwänze, den Männern ragen Rattenfüße unten aus den Hosenbeinen.

Am Ende erinnert nur noch wenig an die Rattenvergangenheit der Menschen, an die Menschwerdung der Ratte oder umgekehrt, alles sieht ganz zivil aus. Aber Lohengrins Mission ist gescheitert, und die einzige Hoffnung ruht auf einem frisch aus dem Schwanenei geschlüpften Embryo. Ist nicht-rattisches Menschsein möglich? Man weiß es nicht, man kann es nicht ganz ausschließen. Übrigens sind vermutlich auch die Zuschauer Teil des Experiments, von dem man nicht weiß, wer das Design dafür entworfen hat. Man weiß also (nach der Menschwerdung der Ratten) auch nie genau, zu welchem Teil des Experiments die Zuschauer gehören. Draußen vorm Festspielhaus umringt ein gutes Dutzend Fotografen den Showmaster Thomas Gottschalk und führt mit ihm eine eigenartige und irgendwie sehr rattenhafte Fotografier-Choreografie auf.

Was das alles mit der Geschichte von Elsa und Lohengrin, Ortrud und Friedrich und König Heinrich zu tun hat? Hans Neuenfels sieht Wagners „Lohengrin“ nicht nur als Drama zwischen fünf Hauptfiguren, sondern zusätzlich als eines, das von diesen fünf Figuren für das Volk aufgeführt wird, das immer und überall zuschaut. Jeder Lebensraum ist zugleich Laborraum, das Leben ist immer zugleich Experiment, noch kennt niemand mehr als Zwischenergebnisse. Die allerdings geben reichlich Anlass für skeptische Haltungen und wenig für pathetische Zukunftshoffnungen, aber bitte, nichts präjudizieren.

Am Anfang haben die Ratten Elsa schwer zugesetzt. Pfeile stecken in ihrem Körper, ohne sie allerdings ernsthaft verwundet zu haben; der Schmerz scheint erst spürbar zu werden, als die Pfeile herausgezogen werden. Die letzten zieht Lohengrin. Das tut weh. Und immer wieder sorgt, mitten im Rattengetümmel, Neuenfels dafür, dass die Menschen auf der Bühne für sich und mit der Musik allein sind. Auch Elsa und Lohengrin machen einen Prozess der Menschwerdung durch, nachdem sie, wie von der Musik herbeigerufen, aus großer, heiliger Ferne hereingekommen sind.

Da hört man dann, einerseits, wie Andris Nelsons mit dem Orchester arbeitet. Nach einem etwas holzschnitthaften und risikoreichen Vorspiel kommt er im Drama an. Er bremst Tempi, nimmt Lautstärke aus den Szenen, setzt Akzente, markiert Steigerungen, arbeitet mit der orchestralen Klangbalance. Man hört Farben und Geflechte, Nuancen und Regungen und vieles, was sonst oft verborgen bleibt. Alles ist so nahe am Geschehen, dass suggestive dramatische Meta-Einheiten entstehen. Das erlebt man nicht oft, dass Regie und Musik zu einer solchen Symbiose finden wie zuweilen hier.

Andererseits hört man auch, wie sehr es sich lohnt, Annette Dasch (Elsa) und Jonas Kaufmann (Lohengrin) miteinander und mit der Musik allein sein zu lassen. Ihre Auftritte und Begegnungen sind feinsinnig ausgearbeitete Höhe- und Wendepunkte. Annette Dasch bekommt den Raum für das, was sie am besten kann, nämlich eine durchaus voluminöse lyrische Entfaltung von Daseinszuständen. Jonas Kaufmanns Lohengrin findet eine große Fülle von Nuancen und viel mehr Fragen als forsche Thesen, und selten sah man einen Lohengrin, der so sehr mit sich selbst konfrontiert ist: Seine Geschichte wollen am Schluss die Ratten schon gar nicht mehr hören.

Neuenfels’ Inszenierung erscheint insgesamt eher weise als provokant, eher ironisch als konfrontativ, und sie ist von großem Respekt für die Musik geprägt. Nicht alles läuft von Anfang an rund, der erste Akt lässt Fragen offen, aber im zweiten ziehen sich die Fäden zunehmend schlüssig zusammen. Daran hat Nelsons’ Arbeit wie auch Reinhard von der Thannens kühl wirkungsvolles Bühnenbild erheblichen Anteil. Ebenso bemerkenswert wie die szenische Arbeit erscheint der Umstand, dass die Inszenierung auch sängerisch Marken setzt; das tut sie nicht nur in den schon erwähnten Hauptpartien, sondern oft auch in Gestalt von Evelyn Herlitzius (Ortrud) und Hans-Joachim Ketelsen (Telramund) sowie Georg Zeppenfeld als Mad King Heinrich. Die Gewissheit allerdings, dass wir nicht wirklich auf dem Planeten der Ratten leben, vermittelt dieser „Lohengrin“ nicht.






 
 
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