Frankenpost,  27. Juli 2010
Michael Thumser
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 25. Juli 2010
Liebes-Labor im Reich der Ratten
 
Das Festival hat seinen Star: Das Publikum bejubelt den Lohengrin-Sänger Jonas Kaufmann. Regisseur Hans Neuenfels trotzt dröhnenden Buhs.
Bayreuth - Einer will dazugehören, aber er kommt nicht hinein. Lohengrin, nur ein Mensch in Hemd und Hose, kein strahlend gerüsteter Heros, müht sich ab an einer verrammelten Tür, doch er kriegt sie nicht auf. So einsam ist auf der Bayreuther Riesenbühne so leicht kein Zweiter.

Später, zu Beginn des zweiten Aufzugs, wiederholt sich die Szene im richtigen Leben: Eben erlosch das Licht im Zuschauerraum, die Musik hebt an - da pocht ein Zu-spät-Kommender aufgeregt laut an eine der unwiderruflich verriegelten Türen. So einsam wie im leeren Foyer ist ein Festspielgast selten.

Er versäumt den Fortgang eines kuriosen Experiments. Dafür hat Regisseur Hans Neuenfels die Bühne der am Sonntag eröffneten Festspiele als Labor herrichten lassen; einfallsreich tat das für ihn sein Szenenbildner Reinhard von der Thannen, der mehr noch als fabelhafter Erfinder zahlloser Kostüme brilliert. Das Publikum bestürmt, am Ende, den Regisseur mit Buhs; er winkt bloß ab: Der 69-Jährige, eine Legende unter den Rebellen seinesgleichen, ist dergleichen gewohnt.

Antiseptische Welt

Irgendwie muss es sein Lohengrin (Jonas Kaufmann) geschafft haben: Einlass erhält er in die antiseptische Welt - und trifft auf ein Volk schwarzer und weißer Ratten (der famose Chor, von Eberhard Friedrich für seine kolossale Aufgabe mit so viel Stimmkraft wie -feinheit präpariert). Durchnummerierte Viehcher mit langen Köpfen, Fingern, Zehen: Eines löst sich, um ein Messerattentat zu verüben auf Heinrich, den König in schwächelnder Menschengestalt (aber mit delikat-deutlichem Bass: Georg Zeppenfeld). Rasch überwältigen grüne Laborgehilfen den Aufrührer und führen ihn ab.

Das Chaos im Reich der Ratten in Ordnung zu bringen, sie zum Menschsein zu befreien, nimmt Lohengrin sich vor. Die Unschuld der angeklagten Elsa muss er beweisen, dann darf er die Schöne gleich freien, und alle Einsamkeit, auch die ihre, nimmt ein Ende. "Ich liebe dich", schwärmt er in ihr Gesicht, kaum dass er sie zum ersten Mal sah; und sie schwört sofort zurück, ihn nie nach "Nam' und Art" zu fragen. Der große Unbekannte fürs Ehebett: Kann das gut gehen?

Wie ein planloses Labor-Experiment missrät der Liebes-Versuch. Dafür sorgen bekanntlich Hexe Ortrud und Telramund, ihr manipulierbarer Gatte: Er, Hans-Joachim Ketelsen, mit tonarm-harter, wenigstens textverständlicher Sprechstimme; und Evelyn Herlitzius: Einst Bayreuths zierlichste Brünnhilde, lässt sie jetzt ihre Stimme nur noch toben, erledigt bis zur Nuancenlosigkeit.

In puncto Seele trägt Annette Dasch den Sieg über sie davon. Ihre Elsa entfaltet sich aus Eingeschüchtertsein; fast kammermusikalisch offenbart sich die farbenreich-frauliche Innigkeit ihres Soprans in den Dialogszenen mit Lohengrin. Der lässt sich schonungsvoll mild auf sie ein - Jonas Kaufmann, ein Sänger mit so viel Affront wie Ausdruck in der Stimme, einer, der durchaus zu strahlen versteht; gleichwohl nutzt er seinen eigen- und einzigartig dunklen Tenor dazu, tief ins Menschliche, in Hoffnung, Täuschung und Enttäuschung zu loten. Das Publikum feiert ihn: kein Held, ein Star.

Wenn er ganz leise singt und dennoch vernehmlich bleibt, zieht das Orchester unter Andris Nelsons mit: Wann spielte es zuletzt so greifbar-unhörbar wie zu Beginn der Gralserzählung? Nur die allerersten, filigranen Hochtöne des allerersten Vorspiels wollen den Orchestergeigern nicht gelingen - was folgt, nimmt gefangen durch Subtilität und Fülle der dramatischen und poetischen Einzelheiten; den Sängern, sie stützend, lässt Nelsons dabei immer die Freiheit, in und auf der Musik ihre Rollen zu entwerfen.

Minutiös weiß Neuenfels auf die Partitur zu reagieren: ein musikkundiger Opernregisseur - keine Selbstverständlichkeit. Mit freizügiger Fantasie setzt er auf Wagners Geschichte die eigene drauf. Das Erlöser-Pathos muss buchstäblich Federn lassen: Lohengrins Schwan schwebt als gerupftes Huhn vom Bühnenhimmel. Grell, dann wieder possierlich gibt sich die Inszenierung, provokant, überkandidelt - anregend rätselhaft: Theater muss sich nicht eins zu eins übersetzen lassen wie die Wörter in einem Vokabelheft.

Hier und da an Günter Grass' "Rättin" erinnert Neuenfels' Szenario, das ja doch wohl das einer Endzeit ist, an Nosferatu, an E. T. A. Hoffmanns Mausekönig ... Er bedient, was zwingend zum Theater gehört: das Spiel, das Zirzensische. Er liefert - auch - Unterhaltung: Im Läuterungsbad der Ironie, der Parodie, des Surrealen löst er die Verspannungen in Wagners "traurigster Oper", und das Erhabene zieht er durch den Kakao der Comedy.

Der Kakao der Comedy

Schritt für Schritt gelingt den Ratten so etwas wie Menschwerdung, wenn sie auch uniform bleiben. Wer da freilich, von oben oder außen, über ihr hermetisches Reich regiert, wer das Experiment in Gang setzte und was er genau ermitteln will, das verrät Neuenfels nicht. Dass der Versuch fehlschlägt, kündigte er vor der Premiere an: "Kein Grund zur Hoffnung." Als die Musik schon schweigt, schwankt Lohengrin, einsam wie anfangs, davon: Er gehört nicht dazu. Und allerdings spricht das drastische Schlussbild zugleich eine andere Sprache: Ein Riesen-Ei gibt ein Neugeborenes frei, und was da der Zukunft geboren wird, ist sichtlich keine Ratte mehr. Plump und abstoßend sieht es aus, aber doch, immerhin: wie ein Mensch.






 
 
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