Nürnberger Nachrichten,  27. Juli 2010
Jens Voskamp
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 25. Juli 2010
"Lohengrin" oder die Ratten in Bayreuth
 
Hans Neuenfels’ zwiespältige Regie zu »Lohengrin«
Die Ratten entern den Bayreuther Festspielhügel: Mit einer dekorativen, aber enttäuschend deutungslosen Neueinrichtung des »Lohengrin« erntete Regisseur Hans Neuenfels neben begeistertem Beifall auch massive Buhsalven.

Da war er wieder. Dieser Zwist zwischen intelligenter Rede und nicht eingelöster Regietat. Was hatte Hans Neuenfels, der Großmeister der Opernprovokation, doch im Voraus für kluge Äußerungen über »Lohengrin« getan. Über das Scheitern einer Utopie, über das Scheitern der Liebe an sich, über die Wichtigkeit von Tabus, über Wagners entlarvende Analysen des Deutschtums und über das musikalische Drama als magisches Element. Es schien, als habe der Protagonist des Regietheaters und bekennende Alt-68er seinen späten Frieden mit Wagner gemacht, an den sich der Verdi-Verehrer (man denke nur an den Nürnberger »Troubadour« oder die legendäre Frankfurter »Aida«) in 34 Opernarbeiten erst drei Mal gewagt hatte.

Es gibt für alles eine Erklärung. Oder?

Auf einmal hörte man solche Töne von dem 69-Jährigen: »Wagner ist Avantgarde. Wagners Musik denkt und sie denkt groß. (...) Wagner stellte Begriffe her, als komponiere er die gesamte deutsche Philosophie mit ein, Kant, Hegel, Feuerbach bis hin zu Heidegger. Das meine ich ganz ernst. Wagners Musik hat immer mit Entwürfen zu Welt, Individuum und Gesellschaft zu tun. (...) Bei Wagner ist die Analyse immer Therapie.« Und sogar für den Antisemitismus des Komponisten hat Neuenfels eine Erklärung: Wagners Haltung, dass nur die Kunst den Menschen zu sich selbst befreit, vertrage sich eben nicht mit einem absoluten Anspruch einer übergeordneten Gottheit.

Schwanenritter im Labor

Schon gar nicht, wenn er monotheistisch so vehement formuliert werde, wie im Judentum. Das alles hätte der späte Hügel-Debütant zeigen oder auch deuten können. Statt dessen verfrachtet er die Schwanenritter-Saga in eine Art steriles, kalt-lichtiges Laboratorium (Bühnenbild: Reinhard von der Thannen), ohne aber das Experiment zum Ende zu bringen. König Heinrich, der nach Flandern geeilt ist, um Verstärkung für sein Heer zu rekrutieren, kennt keine Brabanter und Sachsen mehr, sondern ist umgeben von Ratten, schwarzen, weißen oder mal rosafarbenen. Das sind intelligente, verfressene, räuberische, schreckhafte Wesen, die von einer Crew Laboranten in Schach gehalten werden.

Heinrich selbst scheint aus der Anstalt geflohen und wird von den grün-weißen Reagenzglas-Schergen ebenso drangsaliert wie die langschwänzigen Tierchen. Die dürfen sich pro Akt einmal enthäuten und Menschengestalt annehmen: als befrackte Landbewohner oder hawaiianisch drapiert oder als Uniformierte. Wodurch motiviert, bleibt offen wie so vieles. Wobei sich sogar dicke handwerkliche Fehler bei Neuenfels einschleichen: Noch bevor Elsas Retter seinen Namen preisgegeben hat, prangt bereits ein dickes L für Lohengrin auf den Uniformen... Als Elsas Burggemach im zweiten Akt einfährt, spiegelt sich in der rückwärtigen Plexiglaswand der sonst so unsichtbare Dirigent: Eine neue Bayreuth-Sicht...

Konventionelle Personenregie

Natürlich gibt es jede Menge Schmunzeleffekte über das Bizarre der Szenerie, etwa wenn der Brautchor von Ratten gesungen wird, wenn Ortrud im Finale als wilde friesische Druidin den Punk rauslässt oder Heinrich seine wuchtige Ansprache unter einer mickrig-vertrockneten Eiche abhalten muss. Aber streicht man die Rattensymbolik weg, bleiben eigentlich nur konventionelle Personenregie, das Konterkarieren des Zauberischen und eine aussagefreie, aber immerhin dekorative Zone. Wo aber blieb Neuenfels’ geschultes psychologisches Auge, wo seine gesellschaftskritische Zeitansage, wo das Fanal einer Opposition? Aus dem Brautgemach erwächst ein Sarg: Aha!

Die starken Bilder sollen nicht verschwiegen werden. Dazu gehört, wie Lohengrin schon im Vorspiel eine undurchdringliche Wand vor sich herschiebt, dazu gehört die Symbolik, Elsa als weiblichen Sebastian mit Pfeilen im Rücken auftreten zu lassen (zeigt ihre verletzte Seele). Oder wie der Schwanenritter beim »Wunder«-Chor auftritt: Das Licht im Zuschauerraum geht an, das Rattenvolk wendet sich ans Publikum, deutet ironisch auf Frau Merkel, von der das »Wunder« erwartet wird, aber Lohengrin selbst tritt unbemerkt von hinten ins Geschehen.

Der erste Akt fiel technisch aus

Aber viel zu wenig blitzt von Neuenfels’ früherer visionärer Bildkraft durch. Er ergibt sich der Musik. Setzt mal ein Frage- und ein Ausrufezeichen, numeriert Telramunds Anklage, das Gottesgericht per Schwert und König Heinrichs Kampfansage im 3. Akt als Wahrheiten eins bis drei, spielt Rattenanimationsfilmchen ein (wobei der im 1. Akt technisch ausfiel) und lässt sich am Ende von Eva und Katharina Wagner als solidarische Rückenstärkung gegen den Unmut vieler Wagnerianer beim Verbeugen in die Mitte nehmen. Die Bayreuther Ästhetik braucht andere Aufbrüche als die Standbilder einer zwanzig Jahre zurückliegenden Avantgarde.

Künstlerisch geht das Debüt des 31-jährigen Andris Nelsons am Pult in Ordnung. Der Lette, der schon als 25-Jähriger die Lettische Nationaloper übernahm und zur Zeit das City-of-Birmingham-Orchestra lenkt, führte das im Vorspiel noch etwas wacklige Orchester auf einen schmelzenden, elegischen Kurs, der knallige Effekte scheut. Romantisches Flirren pur, kein Parteitagsdonner. Auch Georg Zeppenfeld von der Dresdner Semperoper ist als schlacksig-wirrer wie als kraftvoller, aber nie martialischer Heinrich-Bass ein Gewinn.

Der Sprung in die Kopfstimme

Der umjubelste Star des Abends, Jonas Kaufmann in der Titelpartie, verfeinerte seine auf vokale Ökonomie bedachte Rollenanlage, wie er sie letztes Jahr in München erstmals wagte. Er singt vorwiegend im Pianissimo, springt bei den Höhen sofort in die Kopfstimme und dreht nur in ganz entscheidenden Momenten auf: Etwa bei »Nie sollst Du mich befragen!«, in der Münster-Szene oder in der »Grals-Erzählung«.

Mehr stimmliches Format hatte man sich auch von Annette Dasch versprochen, die im Liegen und vielen anderen Positionen noch schön singt, aber dennoch zu eindimensional bleibt. Ihre Elsa zeigt einfach ihre naive Seite. Evelyn Herlitzius, noch in Erinnerung als überragende Brünnhilde, enttäuschte mit unsicheren Lagenwechseln und großem Vibrato als Ortrud. Dass Hans-Joachim Ketelsen vor vierzehn Tagen für Luca Gallo als Telramund einsprang, weil der Italiener sich einfach nicht mit der Neuenfels-Regie anfreunden konnte, verdient Respekt. Aber er rettete sich zu oft in Sprechgesang.

Rattenschwänze baumeln von der Decke

Bliebe der wieder fantastische Chor (Einstudierung: Eberhard Friedrich), der in den Dreifachkostümen kräftig schwitzte, mit den Halogenaugen blinkte, die Schaufelärmel heftig schüttelte und die Rattenkostüme an Haken in die Obermaschinerie hieven ließ, so dass die Schwänze symbolhaft von der Decke baumeln.

Und das Ende? Aus dem Ei entschlüpft der von Ortrud verhexte Thronfolger Gottfried von Brabant als Fötus, der sich selbst die Nabelschnur kappt und sie in die Menge wirft. Ein ungewisser Neuanfang, der keine Kontinuität verheißt. Was wiederum auch ein wenig auf die Intendanz der beiden Halbschwestern Wagner zutrifft...
 






 
 
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