Badische Zeitung,  27. Juli 2010
Alexander Dick
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 25. Juli 2010
Die „Lohengrin“-Inszenierung von Hans Neuenfels
 
Sein Lieblingssatz sei, sagte Hans Neuenfels wiederholt in Interviews: „Man kann eine Oper nicht zeitgenössisch inszenieren, indem man statt einer Kutsche einen Porsche hinstellt.“
Das macht schmunzeln. Denn bei seinem Debüt als Regisseur bei den Bayreuther Festspielen, passiert nun das Gegenteil. Neuenfels stellt im zweiten Akt eine Kutsche hin, eine glänzend schwarze – freilich eine, die einen heftigen Unfall hinter sich hat. Vorderräder ab, Pferd tot. Und da es einem so brillanten Kopf wie Neuenfels durchaus zuzutrauen ist, dass er hier mit seinem eigenen Zitat kokettiert, muss man wohl auch seine versteckt geäußerte Androhung, dies könnte seine letzte Inszenierung gewesen sein, ernst nehmen. Vielleicht aber verbirgt sich auch dahinter Neuenfels’sche Ironie...

Das Premierenpublikum dagegen hätte angesichts der gewohnten Limousinenviel- beziehungsweise -einfalt rund um das Festspielhaus mit dem Porsche auf der Bühne genauso gut – wenn nicht besser – leben können. Neuenfels’ in dieser Inszenierung nicht zum ersten Mal entdeckte Leidenschaft für die Zoologie, oder besser gesagt für das Tierische im Menschen – und umgekehrt –, scheint manche weit mehr zu verstören. Und wenn zum Brautchor am Beginn des dritten Aufzugs dann lauter putzige schwarz-weiße Rattenpaare aufmarschieren, generiert das ein spontanes "Pfui".

Das Bedauerliche, oft Fatale an all dem ist, dass sich die Diskussion über diese zweifellos unkonventionelle Inszenierung an ihren visuellen Oberflächlichkeiten vermutlich aufreiben wird. Ratten als Edle von Brabant et cetera auf der Bühne, dazu ein paar stumme Laborfachkräfte in mintgrünen Schutzanzügen – muss das nicht zwangsläufig zur Kollision mit allem, was man so rund um den Wagner’schen Erlösungsgedanken zu wissen glaubt, führen?

Dabei lohnt es, die Grundidee der Inszenierung zu rekapitulieren – das Ganze als eine Art Labor. Die Geschichte einer surrealen Liebe in einer realen Welt findet bei Neuenfels ihre Umsetzung als Experiment: Einer großen Population aggressiver Tierchen namens Ratten, einer entindividualisierten und in ihrer Verwandlungsbereitschaft zutiefst kafkaesken Gesellschaft stehen einige Individuen gegenüber – auf der Suche nach dem Geliebt-Werden. Und so passiert, was Richard Wagner seinem "Lohengrin" als tieftrauriger romantischer Oper implantiert hat: Das Experiment scheitert, hatte nie den Hauch einer Chance.

Man kann fragen: wozu Ratten? Nahe liegt, dass der 69-jährige Neuenfels für diese Interpretation große Inspiration bei seinem frühen Lehrer Max Ernst gefunden hat. Die Collage-Technik des Surrealisten findet ihre Entsprechung in einer ebenso imaginationskräftigen Verbindung des scheinbar Zusammenhanglosen. Hier leisten die Bilder und Kostüme von Neuenfels’ kongenialem, langjährigem Partner Reinhard von der Thannen Großes. Wie sich die Ratten ein fürs andere Mal entpuppen und verändern – dauerhaft verändern, hat Stringenz. Die Masse gewinnt im Verlauf des Abends an Dominanz und mutiert von den durchnummerierten Laborratten zu uniformierten Wesen. Auf die Oper übersetzt heißt das: Das Gefahrenpotenzial, das von Brabants Edlen am Ende ausgeht, ist deutlich höher als zu Beginn. Ob es ein gutes Zeichen ist, dass sie die neue Führerfigur erst einmal zum Niederfallen bewegt? Das hässliche Riesenbaby Gottfried jedenfalls wirkt wenig vertrauenerweckend, nachdem es aus seinem überdimensionierten Ei geschlüpft ist und sich davon abgenabelt hat.

Alle Sympathie der Regie dagegen gilt der scheiternden Titelfigur. Neuenfels’ Lohengrin wirkt irdischer, sympathischer als die anderen, womit die Inszenierung die Wagner’sche Dramaturgie nur scheinbar auf den Kopf stellt. Ihr lässt er besonders intensive Gestaltungsfreiräume – und Jonas Kaufmann weiß die zu nutzen. Das gestalterische Potenzial seines virilen Tenors, seine Phrasierungskunst und Diktion etwa in der Gralserzählung machen diesen Lohengrin in summa zum Erlebnis. Womit Kaufmann das gesamte Ensemble auch überstrahlt. Annette Daschs Bayreuth-Debüt fällt durchwachsen positiv aus: im ersten Akt verhalten, mit gelegentlichem Flackern in der Höhe, entwickelt sie in ihrem großen Dialog mit Lohengrin im dritten Aufzug einen immer strahlenderen, klaren, kräftig lyrischen Sopranklang. Evelyn Herlitzius’ Ortrud dagegen bricht schon ästhetisch heraus: Unter ihrem heftig forcierenden Dauerpower-Singen leidet nicht nur die Klangkultur der Ensembles (im Falle des A-cappella-Quintetts sogar heftig), sondern auch massiv die Textverständlichkeit. Eine Entdeckung ist Georg Zeppenfeld, der der in der Inszenierung als Schwächling angelegten Königsfigur nicht nur höchste darstellerische Präsenz verleiht, sondern auch seinen beweglichen, keineswegs zu schwarzen Bass. Hans-Joachim Ketelsen agiert als Telramund schnörkellos und routiniert. Aufhorchen lässt das markante Heerruferdebüt von Samuel Youn. Festspielreife hat der von Eberhard Friedrich einstudierte, naturgemäß stark geforderte Chor, insbesondere aufgrund der enormen Klanghomogenität und Kultur eines geschmeidigen Singens – auch bei den martialischen Passagen.

Dass daran auch das Dirigat des Bayreuth Debütanten Andris Nelsons Anteil hat, ist zu vermuten. Der lettische Dirigent lässt über weite Strecken einen samtenen, im Detail aber sehr transparenten "Lohengrin"-Klang entwickeln, dessen Stärken sich gerade bei den dunkleren B-Tonarten zeigen. Gut möglich, dass manche indes ein alles überstrahlendes, leuchtendes A-Dur vermissen, wie man es aus nicht gedeckelten Orchestergräben kennt. Vielleicht sollte Nelsons die dynamischen Spielräume nach oben zuweilen noch erweitern.

Freilich gilt es noch abzuwägen, inwieweit solche mit der Szene dieses tüftlerischen "Lohengrins" zu vereinbaren ist. Da scheint Hans Neuenfels seherische Qualitäten zu besitzen. In seinem Aufsatzband von 2009 "Wie viel Musik braucht der Mensch?" lässt er Richard Wagner im imaginären Brief an ihn – Neuenfels – schreiben: "Was die Akustik anbelangt, diese Nuss müssen Sie selbst knacken! Sie sind sehr spät gekommen, mein Lieber! Hoffentlich haben Sie noch genügend Zeit, mein Werk zu verstehen!" Ein paar kleine Nüsse für die Zukunft bleiben also noch.
 






 
 
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