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Kultiversum/Opernwelt, Frühkritik, 26. Juli
2010 |
Joachim Lange |
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 25. Juli 2010
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Laborversuch mit Ratten
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Hans Neuenfels eröffnet 99. Bayreuther
Richard-Wagner-Festspiele mit einem Lohengrin-Experiment. Dass Jonas
Kaufmann die Gralserzählung, wie schon in München, mit einer atemberaubend
tiefen Traurigkeit, mit Mut zum Piano und mit Strahlkraft als kleines, rein
musikalisches Minidrama auf fast klinisch leerer Bühne unter einem riesigen
Fragezeichen im Hintergrund singt, ist dabei allerdings noch treffender, als
es vom Regisseur gemeint gewesen sein dürfte. Denn es bleiben für einen so
durchreflektierenden Nachdenker und gewieften szenischen Praktiker wie
Neuenfels in dieser Inszenierung, neben starken Bildern und irritierenden
Ideen, auch verblüffend viele Fragen offen. |
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Am
Anfang will der in banalem Hemd-und-Hose-Zivil von heute Gekleidete in einem
gleißend hellen Raum mit aller Gewalt eine Tür öffnen. Offensichtlich
versucht da jemand, aus erdrückender Einsamkeit zu entfliehen. Durch diesen
Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Versuch, während der silbrig schimmernden
Vorspielklänge, schiebt er jedoch die ganze Wand nach hinten und schafft so
in einem mehr als nur übertragenen Sinne den Laborraum für eine
großangelegte Versuchsreihe. Wobei auch am Ende nicht so ganz klar ist,
wer eigentlich die Laborratten sind, die hier beobachtet werden und wem die
Helfer mit den grünen Ganzkörperschutzanzügen gehorchen, die die Käfige
öffnen, die Ratten verscheuchen, oder auch gleich die Menschen wie den
ziemlich desolat umher taumelnden (aber von Georg Zeppenfeld grandios
gesungenen!) König Heinrich unsanft von der Szene entfernen. Seltsamerweise
bleibt der grundsolide singende Heerrufer Samuel Youn in seiner schrulligen
Aufmachung mit der Sturmfrisur und zu langem Frack unbehelligt.
Ansonsten packen auch schon mal die Ratten zu, die ja ohnehin genauso groß
sind wie die Menschen. Und obendrein in erdrückender Überzahl. Nach mehreren
Häutungen, bei denen die Choristen meist ihren helmartigen Rattenkopf, auf
jeden Fall aber die tierischen Hände und Füße auch zu sommergelben Anzügen
oder Fräcken beibehalten, erweist sich erst beim militärischen Aufmarsch im
dritten Aufzug, was des Pudels, Pardon: was der Ratte Kern vermutlich ist:
es ist der Soldat! Mit Schwanenlogo hinten auf der schwarzen Uniformjacke
und einem L am Koppelschloss. In dieser nachtschwarzen Pointe kommt dann das
konsequent ausgeblendete Historische, das in der Schwanenritteroper ja auch
steckt, durch die psychologisierende Hintertür doch einmal kurz zum
Vorschein.
Wie übrigens in einem hübschen Nebeneffekt auch der Dirigent im verdeckten
Orchestergraben. Wenn sich Ortrud im zweiten Aufzug nächtens an Elsa
heranmacht, dann geschieht dies in einem (geräuschlos) an die Rampe
fahrenden Raum mit nichts als einer Schwanenskulptur darin und mit
Plexiglaswänden. In deren Spiegelung kann man dann den 31-jährigen Letten
Andris Nelsons im T-Shirt bei seinem lustvoll ausgreifenden Verfertigen der
Musik beobachten. Und das gelingt ihm mit transparentem Flirren und
sinnlichem Auftrumpfen und mit einer obendrein mustergültigen
Sängerfreundlichkeit.
Da, wo sich die Szene auf das konzentriert, was zwischen den Protagonisten
passiert, überzeugt sie uneingeschränkt. Ob das nun die Annäherung zwischen
Elsa und Lohengrin ist, die von der ersten schüchternen Berührung bis hin
zum Brautgemach und dem Zusammenbruch nach der Gralserzählung von
durchgängig verzweifelter Zärtlichkeit oder zärtlicher Verzweiflung bestimmt
wird. Auch wenn Annette Dasch bei ihrem Rollendebüt (noch) nicht über die
lyrische Fülle einer idealen Elsa verfügt und deutlich hinter Kaufmanns
Münchner Elsa-Partnerin Anja Harteros zurückbleibt, gestaltet sie es mit
zunehmender Überzeugungskraft. Für ihren offenen Schlagabtausch mit Ortrud
(die Evelin Herlitzius vor allem mit gefährlichem Überdruck auflodern lässt)
gönnt Ausstatter Reinhard von der Thannen ihr obendrein ein üppiges weißes
Brautkleid, Marke Schwanenfeder, während Ortrud mit dem gleichen Modell in
Schwarz auftaucht und Ärger macht. Dieses Bild ist von jener nur leicht
gebrochenen Opulenz wie auch die Kutsche und das tote Pferd am Beginn des
zweiten Aufzugs. Hier haben Ortrud und Friedrich Telramund auch ganz
buchstäblich einen Achsenbruch erlitten und schwören sich gegenseitig auf
eine Gegenoffensive ein. Als das Brautpaar dann am Ende doch die Stufen zum
Traualtar erklimmt, muss Lohengrin einen Störversuch abwehren. Während er zu
den einsetzenden Orgeltönen ein Kreuzzeichen in die Höhe hält, denkt Elsa
offenbar, sie sei der Schwan und bewegt ihre Arme wie Flügel.
Ganz am Ende schließlich hat Telramund (Hans Joachim Ketelsen, der sich auf
eloquente Routine zurückzieht) sein Leben zwar als Ratte verloren, doch auch
alle anderen sinken in Menschengestalt tot zu Boden. Während Lohengrin
gänzlich abwesend Richtung Rampe schreitet, reißt ein Gottfried als
degeneriertes Großbaby aus dem Riesenei selbst seine Nabelschnur durch. Wenn
das ein Neuanfang für die Menschheit sein sollte, dann: Gute Nacht Brabant.
Wie zu erwarten, war der Buhsturm für Neuenfels gewaltig. Viele Zuschauer
quittierten seine experimentellen Infragestellungen vieler
Lohengrin-Gewissheiten aber auch mit Beifall. Beim Jubel für die
Protagonisten gab es sachkundige Differenzierung. |
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