Dem Feind Säure ins Gesicht geschüttet, den Gatten befreit,
«namenlose Freude» besungen - doch da gibt es noch vier weitere
Gefangene. Aufgeteilt auf drei Käfige schweben sie vom
Schnürboden. Vier Herren im Frack sind das, Streicher des
Bayerischen Staatsorchesters, die Partiturfremdes spielen: das
Adagio aus Beethovens Quartett op. 132. Jenen «Dankgesang eines
Genesenen an die Gottheit», der berührt, innehalten lässt, den
Augenblick viel besser kommentiert und überhöht als manch
plakativ gestaltete «Leonoren»-Ouvertüre. Ein Moment, der den
enttäuschenden Abend (fast) rettet.
«Fidelio» einmal
nicht als Fascho-Drama, das ist - nach all den erschöpfend
inszenierten Diktatur-Variationen - eine grundsätzlich
sympathische Entscheidung. Ebenso die Eliminierung vieler
Holperdialoge zugunsten überraschend passender Texte von Jorge
Luis Borges. Regisseur Calixto Bieito zielte bei seinem späten
Debüt an der Bayerischen Staatsoper auf anderes: auf die
Freilegung des individuellen Konfliktfeldes, in dem sich Leonore
und Florestan bewegen. Folgerichtig ließ er sich von Rebecca
Ringst eine monumental aufragende Labyrinthkonstruktion bauen,
durch die das Personal in zuweilen lähmender Aufgeregtheit
gejagt wird. «Fidelio» also als geistiges Gefängnis, als Drama
der Obsession und Ausweglosigkeit. Passt durchaus, ist aber
schnell auserzählt. Die Bühne behauptet ein Konzept, der Rest
ist in Höhe und Breite auseinandergezogenes Rampentheater
inklusive einiger Befindlichkeitsstudien. Nach der Pause kippt
die Konstruktion in die Horizontale. Florestan irrt durchs
Plexiglas-Labyrinth. Bieitos Problem ist dabei weniger das
Konzept als die Perspektive: Er arrangiert Figuren, spielt mit
ihnen, anstatt Charaktere von innen heraus zu erfüllen.
Anja Kampe, mit gehaltvoller Mittellage gesegnet, mag mit der
Zentrierung der hohen Lage Schwierigkeiten haben. Die zwischen
Entschlossenheit und Verzagen schwankende Leonore nimmt man ihr
dennoch ab. Jonas Kaufmann spielt Florestan als schwer
Traumatisierten: ein schutzloses Häufchen Rest-Mann, ein
Kranker, der sich ständig mit dem Kamm durch die fettigen Locken
fährt, sich in die Embryonalhaltung flüchtet und beim
Jubel-Duett abwesend neben der Gattin sitzt. Vokal ist derzeit
kein besserer Florestan denkbar. Den Ruf «Gott» am Beginn seiner
Szene pegelt er aus dem Nichts ins Fortissimo, die markige
Dramatik, die Mühelosigkeit im fast unsingbaren Arien-Schluss,
das nie manierierte Nuancieren - all das sichert dem Star die
Krone des Abends.
Dicht auf den Fersen ist ihm
hier Wolfgang Koch, der vorführt, dass man Pizarro nicht aufs
Brüllen verengen muss, sondern dem Finsterling tatsächlich
Facetten abgewinnen kann. Abgesehen vom Paar Marzelline/Jaquino
(für das offenbar ein Foto-Casting reichte) ist das eine
angemessene Besetzung, inklusive FranzJosef Selig (Rocco) und
Steven Humes, der als Fernando nicht die Rettung bringt, sondern
in Gestalt des «Batman»-Jokers für die finale, zynische Pointe
sorgt.
Dass diese Sänger blessurenfrei mit Daniele Gattis
Dirigat zurechtkommen, ist ein Wunder. Von Beethovens Vehemenz,
seiner offensiven Rhetorik keine Spur. Müde schleppen sich die
Nummern dahin, die dritte «Leonoren»-Ouvertüre zu Beginn (statt
der üblichen «Fidelio»-Ouvertüre) klingt, als habe sie ein
Cherubini-Parodist notiert. In die heftigen Buhs für Gatti mag
sich eine Extraportion Erleichterung gemischt haben: Der
Dirigent galt lange als Kirill Petrenkos Co-Favorit im Rennen um
die Nagano-Nachfolge.