Beethovens Fidelio, diesem Jubelgesang der Freiheit, dem hohen
Lied der Gattenliebe, neue Perspektiven abzugewinnen, scheint
für viele Regisseure ein Problemfall zu sein. Ist zu diesem Werk
nicht schon alles gedacht, gesagt und gezeigt worden, was es
auch immer hineinzudeuten und herauszufiltern gilt? Ob
Liebesdrama in Kostüm und Maske, Thriller mit Rettung in
höchster Not, moralischer Appell, Utopie oder völkisch-heroische
Propaganda im dritten Reich – in radikale Umarbeitungen hatten
sich schon so manche Regisseure verbissen. Sie alle fahndeten
nach Widersprüchen in Beethovens Freiheitsoper bis hin zu
apokalyptischen Dimensionen. In Hamburg hat Peter Palitzsch den
leidenden Florestan mit dem gekreuzigten Christus identifiziert.
David Pountney machte die Oper in Bregenz zum aufwendigen
High-Tech-Event, und in Martin Kusejs Produktion an der
Staatsoper Stuttgart avancierte die Gefangenschaft zum
Schlüsselbegriff für die Oper. Die Befreiung des Florestan fand
nur in der Fantasie von Leonora statt. Hans Kresnik projizierte
gar in den Fidelio eine sozialkritische Note: ein Kapitel im
Arbeitskampf um eine Bremer Werft. Schließlich ließ Harry Kupfer
gemäß Semi-Stage-Prinzip die Protagonisten in Nürnberg auf auf
leer gefegter Bühne mit Konzertflügel alltagskostümiert mit
Klavierauszug in der Hand wie zu einer Probe erscheinen, ihre
Kleidung ablegen, reales Spiel vorführen und zwischendurch
wieder an der Rampe zur Vortragshaltung erscheinen.
Jenseits der traditionellen Ästhetik der Freiheitsoper versteht
sich Calixto Bieitos Deutung als provokantes Aktivitätstheater –
als Poem über die Freiheit des Geistes, über Einsamkeit und
Befreiung der Gedanken. Die Neuinszenierung fand an Bayerns
Staatsoper in München statt. Dem Katalanen geht ja der
zweifelhafte Ruf voraus, dass er wie ein Regie-Revoluzzer, als
Enfant terrible, mit drastischen und blutigen Bildern, mit
Folter, nacktem Fleisch und Sexualität zu agieren pflegt, vor
allem wenn es um das Musiktheater geht. Und Bieito bürstet mit
einer intellektuellen Deutung gehörig gegen die
Erwartungshaltung des Publikums.
Rebecca Ringst stellt
eine abstrakte Installation, ein gläsernes Labyrinth, auf die
Bühne, zu verstehen als Areal der Unfreiheit, mentales Gefängnis
der Angst. In türlosen Käfigen sind Menschen mit ihren eigenen
Ideen gefangen, werden in einer hypertrophen Akrobatik treppauf,
treppab durch das neonbeleuchtete Gestänge gejagt. Dazu gesellen
sich von oben herab schwebende Figuren, die in den dramatischen
Aufbrüchen der zu Beginn gespielten Ouvertüre Leonore 3
orgiastische Zappeleien vorführen. Da erhebt sich schon die
Frage, wie dieser aufgepfropfte philosophische Ansatz mit den
realen Gegebenheiten in Einklang zu bringen ist. Vieles
erscheint hier als dekoratives Beiwerk. Trotz alledem: die
Handlung des Fidelio im labyrinthischen Gefüge wirkte erfreulich
entmufft, nicht zuletzt des Umgangs mit den gekürzten oder
gestrichenen Dialogen wegen, die dem ersten Akt vieles von der
sonst peinlich berührenden Naivität nehmen. Auch neu gefasste
Texte zu den Arien unterstreichen eine modisch progressive
Tendenz. Eingeschoben werden auch Textpassagen von Jorge Luis
Borges, so aus „Der Garten der Pfade…“ oder „Das Labyrinth“.
Florestan avanciert hier zur Zentralfigur – depressiv,
unkämpferisch im Pyjama – die sich permanent manisch über die
Haare streicht und nach ihrer Befreiung enttraumatisiert der
rettenden Gattin in die Arme fällt. Wenn Pizzaro sich wie ein
magisch wahnsinnig gewordener auf Florestan stürzt, wird er von
Leonore durch kräftigen Guss aus dem Giftkübel aus dem Verkehr
gezogen. Im Finalbild wird die Verkündigung der Freiheit
statuarisch konzertant vorgeführt, während Don Fernando (Steven
Humes) als fieser Batman-Joker ironisch das Ruder führt und dem
Jubel konterkariert.
Daniele Gatti am Pult des
geschmeidig aufspielenden Staatsorchesters mied zwar
aufdringliches Pathos im Klang, doch den akkuraten Zugriff im
Jubelfinale blieb er schuldig. Singulär erschien im zweiten Akt
der „Heilige Dankgesang eines Genesenden…“ aus Beethovens a-Moll
Quartett op. 132. Dass das Odeon Quartett in lichter Höhe von
oben herab auf drei schwankende Gitterkäfige verteilt zur
musikalischen Tat schritt, wirkte arg verstiegen.
Mit
vokaler Intensität legte Anja Kampe als Leonore Ehre ein. Das
wurde gerade im ekstatischen Taumel in den höheren Regionen
hörbar, wenn die Töne wie Pfeile in die Höhe schießen und
präzise ihr Ziel trafen. Jonas Kaufmann als Florestan
beeindruckte mit strahlender Höhe und einer ekstatischen Vision
von Rettung und Befreiung. Viel Bedrohlichkeit strahlte
Wolfgang Koch als Pizzaro aus. Laura Tatulesco, vernarrt in ihre
Schönheit, führte die Marzelline aus penetranter
Singspielhaftigkeit, ebenso der besessen seine Angebetete
begattende Jacquino von Jussi Myllys. Für eine rollendeckende
Darstellung des Kerkermeisters Rocco sorgte Franz-Josef Selig
mit seiner schwarz gefärbten Bassstimme. In guter Verfassung
stellte sich der Chor vor, dem durch räumliche Trennung beim
Gefangenenchor viel an Präsenz abverlangt wurde.
Die aus
dem üblichen Fidelio-Klischee ausscherende Inszenierung löste
kontroverse Reaktionen beim Publikum aus.