Einen zwiespältigen Eindruck hinterließ Calixto Bieitos
Neuinszenierung von Beethovens Oper „Fidelio“ an der Bayerischen
Staatsoper. Dass der katalanische Regisseur nicht mir einer
herkömmlichen traditionellen Produktion aufwarten würde, war von
vorneherein klar. Bieito wäre nicht Bieito, wenn er nicht
regelmäßig mit althergebrachten Sehgewohnheiten rigoros
aufräumen und sehr innovativen, oft provokanten Sichtweisen den
Vorzug geben würde. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass
er auch den „Fidelio“ gänzlich umgekrempelt hat. Das Bühnenbild
von Rebecca Ringst hat so gar nichts Kerker- bzw.
Gefängnishaftes an sich. Wenn sich der Vorhang öffnet, fällt der
Blick auf ein aus Metall, Aluminium und Glas bestehendes,
mehrstöckiges Labyrinth, dessen verschiedene Ebenen durch
Leitern miteinander verbunden sind. Aus dem Orchestergraben
kriechen insektenartig Statisten, die sich schnell in dem ganzen
Irrgarten verteilen. Orientierungslos umherirrend versuchen sie
sich zurechtzufinden. Dieses Vorhaben ist jedoch zum Scheitern
verurteilt. Bei Bieito gibt es weder Gefangene noch
Gefängniswärter. Sämtliche Beteiligte - Protagonisten, Chor und
Statisten - sind Gefangene, und zwar Gefangene ihrer selbst,
ihrer eigenen Befindlichkeiten. Es sind ziemlich viele Menschen,
die die Bühne bevölkern, ein echtes Kollektiv bilden sie indes
nicht. Jeder bleibt für sich selbst, sucht isoliert und von den
anderen abgegrenzt seinen eigenen Weg. Die gläsernen Wände,
durch die einzelnen Segmente voneinander getrennt sind, schieben
jeder echten Kontaktaufnahme einen Riegel vor. Keiner kann einem
anderen wirklich begegnen, ihm näher kommen. Jeder bleibt einsam
und allein. Deutlich wird: Gefangenschaft ist hier kein äußerer,
sondern ein innerer Zustand. Das gläserne Labyrinth symbolisiert
gleichermaßen ein mentales Gefängnis, das dem Gehirn entspringt.
Gekonnt zeigt Bieito zudem die Auswüchse eines totalitären
Überwachungsstaates auf. Trotz ihrer inneren Abschottung steht
jede einzelne Person in diesem Irrgarten unter ständiger
Beobachtung. Der transparente Glasaufbau erweist sich als
Instrument totaler Kontrolle, der sich keiner entziehen kann.
Jede Art von Privatsphäre wird eliminiert, was zunehmend
Konfusion und Verwirrung nach sich zieht. Die Parallelen zu
Orson Welles Kafka-Film „Der Prozess“ sind nur allzu
offenkundig. Neben Kafka greift Bieito auch auf Jorge Luis
Borges und Cormac McCarthy zurück, deren Texte er an die Stelle
des ursprünglichen Librettos setzt. Dieser auf den ersten Blick
recht willkürliche Eingriff macht bei genauerer Betrachtung
durchaus Sinn. Bieitos Intentionen werden durch diesen
geschickten Schachzug deutlicher. Insbesondere lässt sich den
Worten Leonores vor dem Terzett im 1. Akt entnehmen, dass das
Labyrinth nicht nur eine Art von Furcht darstellt, sondern auch
Hoffnung bedeuten kann, wenn es gelingt, in sein Rettung
verheißendes Zentrum vorzustoßen.
Mit diesem
nachvollziehbaren und diskutablen Ansatz des Regieteams kann man
leben. Es gibt aber auch eine Kehrseite der Medaille. Bieito
legt im 1. Akt ein zu starkes Gewicht auf die Choreographie der
zahlreichen Kletterpartien und vernachlässigt das Wesentliche:
Ausgeprägte Charakterzeichnungen bleiben auf der Strecke, die
Handlungsträger wirken schablonenhaft. Aber vielleicht will er
damit dartun, dass Vereinsamung und Abschottung gerade nicht zur
Ausbildung oder Stärkung des Individuums führen. Nicht immer
leuchten seine Einfälle ein. So mag es zwar verständlich sein,
dass Marzelline sich für ihren Geliebten Fidelio schön machen
will. Warum sie aber immer wieder ihre Frisur ändern und ihre
ohnehin schon übermäßig beschmierte Mundpartie ständig weiter
mit rotem Lippenstift bearbeiten muss, bleibt unerschlossen.
Hier wäre weniger mehr gewesen. Manchmal geht es etwas plakativ
und aufgesetzt zur Sache, was man von Bieito so gar nicht
gewohnt ist. Wenig ansprechend war auch der Einfall, im zweiten
Akt den sich ständig auf der Erde krümmenden Florestan von Rocco
und Leonore während ihres Duetts ständig über die Bühne ziehen
zu lassen.
„Fidelio“ ist eine Freiheitsoper. Die Freiheit
ist ihr zentraler Wert. Auch von Bieito wird dieser Aspekt
thematisiert. Zu Beginn des 2. Aktes kippt das Labyrinth
horizontal zu Boden, während gleichzeitig einige Akrobaten an
Seilen vom Schnürboden herabschweben. Dieser noch vor dem
Einsetzen der Musik stattfindende und von einem Zuschauer
lautstark als Zirkusnummer beschimpfte Einlage machte aber Sinn:
Gleich Wieland dem Schmied haben sich die Gefangenen Flügel
geschmiedet, um ihrem - geistigen - Kerker zu entfliehen. Ein
ganz starkes Bild war gegen Ende das Zitat des aus lebendigen
Körpern bestehenden Walhall-Netzes aus La Fura del Baus’
grandioser Interpretation von Wagners „Ring des Nibelungen“ am
Opernhaus Valencia. Der Freiheitsgedanke bleibt bei Bieito aber
letztlich ein utopischer Wunsch. Die Menschen finden aus ihren
labyrinthischen Obsessionen nicht heraus. Alle bleiben unfrei,
hoffen aber weiter. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Wenn der Regisseur dann vor dem großen Finale vier in schwebende
Käfige gesperrte Musiker als musikalische Einlage das „Molto
adagio“ aus Beethovens Streichquartett Opus 132 in a-moll
spielen lässt, beschwört er nachhaltig die Situation in
deutschen NS-Konzentrationslagern herauf, in denen ebenfalls als
Ausdruck der Hoffnung heimlich musiziert wurde. Bieito misstraut
einem lieto fine und versieht es mit einem deutlichen
Fragezeichen. Das Labyrinth richtet sich zum Schluss wieder auf.
Der als Deus ex machina seine Ansprache aus der linken
Proszeniumsloge haltende Minister wird völlig überzeichnet als
grell geschminkter Harlekin, als regelrechte Witzfigur
dargestellt, von der keine Hilfe zu erwarten ist. Gänzlich
unsinnig mutete die Idee an, dass Don Fernando Florestan mit
einer kleinen Taschenpistole erschießt. Noch unverständlicher
war, dass das Opfer sich gleich darauf wieder erhob und von
„unaussprechlich süßem Glück“ sang. Das war eigentlich der
einzige szenische Flop des Abends, der recht überzeugend endete:
Bieito stellt eine äußerst pessimistische Zukunftsprognose auf.
Die Menschen sind von der Situation überfordert. Alles bleibt
offen. Leonore und Florestan, die während ihres Freude-Duetts
wieder ihre gutbürgerlichen, von Ingo Krügler stammenden Kleider
angelegt haben, blicken fragend ins Publikum. Ihre Beziehung
wird sich trüben. Ob ihre Ehe auf Dauer halten wird, ist
fraglich. Das im Text beschworene Hohelied der Liebe bleibt
Makulatur.
Beachtlich war die musikalische Seite der
Aufführung. Bei Daniele Gatti beeindruckten in erster Linie die
große Sängerfreundlichkeit sowie die dynamische
Differenziertheit seines Dirigats. Wenn er bei der hier an den
Anfang gestellten Leonore III-Ouvertüre imposante Crescendi
unmittelbar in hauchzarte Pianissimi münden ließ, hielt man
regelrecht den Atem an. Indes wirkte der von ihm und dem
Bayerischen Staatsorchester erzeugte Klangteppich an vielen
Stellen leider zu behäbig und wenig schwungvoll, was ihm einige
Buhrufe einbrachte.
Auf beachtlichem Niveau bewegten sich
die sängerischen Darbietungen. Anja Kampe konnte als Leonore v.
a. mit einer ausdrucksstarken, gefühlvollen Mittellage punkten.
Zur Höhe hin verhärtete sich ihr Sopran leider. In diesem
Bereich hätte man sich von ihr etwas mehr Körperstütze
gewünscht. Zu Recht einen großen Erfolg konnte Jonas Kaufmann in
der Rolle des Florestan für sich verbuchen. Unter die Haut ging
bereits zu Beginn das auf dem hohen ‚g’ zu singende „Gott“,
welches er von einem feinsten, kaum hörbaren Pianissimo zu einem
ausgesprochen starken Verzweiflungsschrei zu steigern vermochte.
Auch im Folgenden konnte sein viriler, sehr baritonal
eingefärbter Tenor durch immense Stimmkraft und
Ausdrucksintensität überzeugen. Nur bei den leisen Tönen sollte
er ein wenig aufpassen, dass seine Stimme im Körper verankert
bleibt. Prachtvoll war Wolfgang Koch, der als Bösewicht Pizarro
zwar regiebedingt etwas vordergründig wirkte, gesanglich aber
mit seinem fulminanten und bestens gestützten Heldenbariton eine
wahre Glanzleistung erbrachte. Hervorragend schnitt auch
Franz-Josef Selig ab, der einen wohlklingenden, sonoren Bass in
die Partie des Rocco einbrachte. In den Rollen von Marcelline
und Jaquino gefielen mit ordentlich focussierten Stimmen Laura
Tatulescu und Jussi Myllys. Flach und halsig klang der Don
Fernando von Steven Humes. Von den beiden Gefangenen schnitt der
volle Bass von Tareq Nazmi besser ab als der nur über dünnes
Tenormaterial verfügende Dean Power. Gut präsentierte sich der
Chor.