Der Opernfreund
Ludwig Steinbach
Beethoven: Fidelio, Bayerische Staatsoper, 21. Dezember 2010
Gefangen in eigenen Befindlichkeiten
 
 
Einen zwiespältigen Eindruck hinterließ Calixto Bieitos Neuinszenierung von Beethovens Oper „Fidelio“ an der Bayerischen Staatsoper. Dass der katalanische Regisseur nicht mir einer herkömmlichen traditionellen Produktion aufwarten würde, war von vorneherein klar. Bieito wäre nicht Bieito, wenn er nicht regelmäßig mit althergebrachten Sehgewohnheiten rigoros aufräumen und sehr innovativen, oft provokanten Sichtweisen den Vorzug geben würde. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass er auch den „Fidelio“ gänzlich umgekrempelt hat. Das Bühnenbild von Rebecca Ringst hat so gar nichts Kerker- bzw. Gefängnishaftes an sich. Wenn sich der Vorhang öffnet, fällt der Blick auf ein aus Metall, Aluminium und Glas bestehendes, mehrstöckiges Labyrinth, dessen verschiedene Ebenen durch Leitern miteinander verbunden sind. Aus dem Orchestergraben kriechen insektenartig Statisten, die sich schnell in dem ganzen Irrgarten verteilen. Orientierungslos umherirrend versuchen sie sich zurechtzufinden. Dieses Vorhaben ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Bei Bieito gibt es weder Gefangene noch Gefängniswärter. Sämtliche Beteiligte - Protagonisten, Chor und Statisten - sind Gefangene, und zwar Gefangene ihrer selbst, ihrer eigenen Befindlichkeiten. Es sind ziemlich viele Menschen, die die Bühne bevölkern, ein echtes Kollektiv bilden sie indes nicht. Jeder bleibt für sich selbst, sucht isoliert und von den anderen abgegrenzt seinen eigenen Weg. Die gläsernen Wände, durch die einzelnen Segmente voneinander getrennt sind, schieben jeder echten Kontaktaufnahme einen Riegel vor. Keiner kann einem anderen wirklich begegnen, ihm näher kommen. Jeder bleibt einsam und allein. Deutlich wird: Gefangenschaft ist hier kein äußerer, sondern ein innerer Zustand. Das gläserne Labyrinth symbolisiert gleichermaßen ein mentales Gefängnis, das dem Gehirn entspringt. Gekonnt zeigt Bieito zudem die Auswüchse eines totalitären Überwachungsstaates auf. Trotz ihrer inneren Abschottung steht jede einzelne Person in diesem Irrgarten unter ständiger Beobachtung. Der transparente Glasaufbau erweist sich als Instrument totaler Kontrolle, der sich keiner entziehen kann. Jede Art von Privatsphäre wird eliminiert, was zunehmend Konfusion und Verwirrung nach sich zieht. Die Parallelen zu Orson Welles Kafka-Film „Der Prozess“ sind nur allzu offenkundig. Neben Kafka greift Bieito auch auf Jorge Luis Borges und Cormac McCarthy zurück, deren Texte er an die Stelle des ursprünglichen Librettos setzt. Dieser auf den ersten Blick recht willkürliche Eingriff macht bei genauerer Betrachtung durchaus Sinn. Bieitos Intentionen werden durch diesen geschickten Schachzug deutlicher. Insbesondere lässt sich den Worten Leonores vor dem Terzett im 1. Akt entnehmen, dass das Labyrinth nicht nur eine Art von Furcht darstellt, sondern auch Hoffnung bedeuten kann, wenn es gelingt, in sein Rettung verheißendes Zentrum vorzustoßen.

Mit diesem nachvollziehbaren und diskutablen Ansatz des Regieteams kann man leben. Es gibt aber auch eine Kehrseite der Medaille. Bieito legt im 1. Akt ein zu starkes Gewicht auf die Choreographie der zahlreichen Kletterpartien und vernachlässigt das Wesentliche: Ausgeprägte Charakterzeichnungen bleiben auf der Strecke, die Handlungsträger wirken schablonenhaft. Aber vielleicht will er damit dartun, dass Vereinsamung und Abschottung gerade nicht zur Ausbildung oder Stärkung des Individuums führen. Nicht immer leuchten seine Einfälle ein. So mag es zwar verständlich sein, dass Marzelline sich für ihren Geliebten Fidelio schön machen will. Warum sie aber immer wieder ihre Frisur ändern und ihre ohnehin schon übermäßig beschmierte Mundpartie ständig weiter mit rotem Lippenstift bearbeiten muss, bleibt unerschlossen. Hier wäre weniger mehr gewesen. Manchmal geht es etwas plakativ und aufgesetzt zur Sache, was man von Bieito so gar nicht gewohnt ist. Wenig ansprechend war auch der Einfall, im zweiten Akt den sich ständig auf der Erde krümmenden Florestan von Rocco und Leonore während ihres Duetts ständig über die Bühne ziehen zu lassen.

„Fidelio“ ist eine Freiheitsoper. Die Freiheit ist ihr zentraler Wert. Auch von Bieito wird dieser Aspekt thematisiert. Zu Beginn des 2. Aktes kippt das Labyrinth horizontal zu Boden, während gleichzeitig einige Akrobaten an Seilen vom Schnürboden herabschweben. Dieser noch vor dem Einsetzen der Musik stattfindende und von einem Zuschauer lautstark als Zirkusnummer beschimpfte Einlage machte aber Sinn: Gleich Wieland dem Schmied haben sich die Gefangenen Flügel geschmiedet, um ihrem - geistigen - Kerker zu entfliehen. Ein ganz starkes Bild war gegen Ende das Zitat des aus lebendigen Körpern bestehenden Walhall-Netzes aus La Fura del Baus’ grandioser Interpretation von Wagners „Ring des Nibelungen“ am Opernhaus Valencia. Der Freiheitsgedanke bleibt bei Bieito aber letztlich ein utopischer Wunsch. Die Menschen finden aus ihren labyrinthischen Obsessionen nicht heraus. Alle bleiben unfrei, hoffen aber weiter. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Wenn der Regisseur dann vor dem großen Finale vier in schwebende Käfige gesperrte Musiker als musikalische Einlage das „Molto adagio“ aus Beethovens Streichquartett Opus 132 in a-moll spielen lässt, beschwört er nachhaltig die Situation in deutschen NS-Konzentrationslagern herauf, in denen ebenfalls als Ausdruck der Hoffnung heimlich musiziert wurde. Bieito misstraut einem lieto fine und versieht es mit einem deutlichen Fragezeichen. Das Labyrinth richtet sich zum Schluss wieder auf. Der als Deus ex machina seine Ansprache aus der linken Proszeniumsloge haltende Minister wird völlig überzeichnet als grell geschminkter Harlekin, als regelrechte Witzfigur dargestellt, von der keine Hilfe zu erwarten ist. Gänzlich unsinnig mutete die Idee an, dass Don Fernando Florestan mit einer kleinen Taschenpistole erschießt. Noch unverständlicher war, dass das Opfer sich gleich darauf wieder erhob und von „unaussprechlich süßem Glück“ sang. Das war eigentlich der einzige szenische Flop des Abends, der recht überzeugend endete: Bieito stellt eine äußerst pessimistische Zukunftsprognose auf. Die Menschen sind von der Situation überfordert. Alles bleibt offen. Leonore und Florestan, die während ihres Freude-Duetts wieder ihre gutbürgerlichen, von Ingo Krügler stammenden Kleider angelegt haben, blicken fragend ins Publikum. Ihre Beziehung wird sich trüben. Ob ihre Ehe auf Dauer halten wird, ist fraglich. Das im Text beschworene Hohelied der Liebe bleibt Makulatur.

Beachtlich war die musikalische Seite der Aufführung. Bei Daniele Gatti beeindruckten in erster Linie die große Sängerfreundlichkeit sowie die dynamische Differenziertheit seines Dirigats. Wenn er bei der hier an den Anfang gestellten Leonore III-Ouvertüre imposante Crescendi unmittelbar in hauchzarte Pianissimi münden ließ, hielt man regelrecht den Atem an. Indes wirkte der von ihm und dem Bayerischen Staatsorchester erzeugte Klangteppich an vielen Stellen leider zu behäbig und wenig schwungvoll, was ihm einige Buhrufe einbrachte.

Auf beachtlichem Niveau bewegten sich die sängerischen Darbietungen. Anja Kampe konnte als Leonore v. a. mit einer ausdrucksstarken, gefühlvollen Mittellage punkten. Zur Höhe hin verhärtete sich ihr Sopran leider. In diesem Bereich hätte man sich von ihr etwas mehr Körperstütze gewünscht. Zu Recht einen großen Erfolg konnte Jonas Kaufmann in der Rolle des Florestan für sich verbuchen. Unter die Haut ging bereits zu Beginn das auf dem hohen ‚g’ zu singende „Gott“, welches er von einem feinsten, kaum hörbaren Pianissimo zu einem ausgesprochen starken Verzweiflungsschrei zu steigern vermochte. Auch im Folgenden konnte sein viriler, sehr baritonal eingefärbter Tenor durch immense Stimmkraft und Ausdrucksintensität überzeugen. Nur bei den leisen Tönen sollte er ein wenig aufpassen, dass seine Stimme im Körper verankert bleibt. Prachtvoll war Wolfgang Koch, der als Bösewicht Pizarro zwar regiebedingt etwas vordergründig wirkte, gesanglich aber mit seinem fulminanten und bestens gestützten Heldenbariton eine wahre Glanzleistung erbrachte. Hervorragend schnitt auch Franz-Josef Selig ab, der einen wohlklingenden, sonoren Bass in die Partie des Rocco einbrachte. In den Rollen von Marcelline und Jaquino gefielen mit ordentlich focussierten Stimmen Laura Tatulescu und Jussi Myllys. Flach und halsig klang der Don Fernando von Steven Humes. Von den beiden Gefangenen schnitt der volle Bass von Tareq Nazmi besser ab als der nur über dünnes Tenormaterial verfügende Dean Power. Gut präsentierte sich der Chor.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
  www.jkaufmann.info back top