Monatelang, womöglich jahrelang gesucht. Den Busen mit einer
Binde platt gebunden, in Männerkleider geschlüpft, dem Feind
Säure ins Ge
sicht geschüttet, den Gatten endlich gefunden
und dann das: ein schutzloses Häufchen Rest-Mann kauert da
traumatisiert am Boden. Erkennt die rettende Ehefrau kaum, fährt
sich mit dem Kamm durch die fettigen Locken - nur dieser
Versuch, seine Würde zurückzugewinnen, bleibt ihm.
Und
als Beethovens „Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit",
jener langsame Satz aus dem a-Moll-Quartett op.132, erklingt,
wird offenbar: Nichts ist hier ge- oder erlöst. Zwei einander
fremd Gewordene sitzen da nebeneinander. Vier, fünf Minuten
konzentriert sich das Stück in diesem vielsagenden Moment. Da
vergisst auch diese Inszenierung endlich ihr metallklapperndes
Treppauf-Treppab, ihre mit schwebendem Stuntpersonal garnierte,
bald lähmende Aufgeregtheit, ihre monumentale, aufdringliche
Zeichenhaftigkeit.
Skandal? Eine im Nachhinein
lächerliche Prognose, wie sich nach der matt bejubelten und
bebuhten „Fidelio"-Premiere im Münchner Nationaltheater zeigt.
Der Regisseur Calixto Bieito, der erst jetzt an der Bayerischen
Staatsoper debütierte, mag eine Extraportion Kreide genossen
haben: „Fidelio" einmal nicht als Fascho-Drama, das ist schon
mal grundsätzlich sympathisch. Dann allerdings müsste im ersten
Akt mehr passieren, als Figuren durch eine steil aufragende, mit
Neonröhren versehene Labyrinth-Konstruktion zu jagen, welche die
Bühnenbildnerin Rebecca Ringst dem Staatsopern-Budget abgerungen
hat. „Fidelio" als geistiges Gefängnis, als Irrweg-Innenwelt,
als Drama der Obsessionen und Albträume, als Tragödie der Hilf-
und Ausweglosigkeit: passt perfekt zum Stück, ist aber nach 15
Minuten auserzählt. Eine Bühne behauptet ein Konzept-und was
kommt nun?
Unterm Strich bleibt im ersten Akt nicht mehr
als in der Höhe und Breite auseinandergezogenes Rampentheater.
Bieito selbst mag das geschwant haben, lässt er doch nach der
Pause und unter höhnischem Klatschen der Premierenbesucher die
Konstruktion in die Horizontale kippen und Florestan durchs
Glaskabinett irren. Bieitos Problem ist dabei weniger das
Konzept, sondern seine Perspektive. Wie von oben und dabei doch
meilenweit von ihnen entfernt blickt er auf seine Figuren,
verschiebt sie, spielt mit ihnen, delegiert Wirkung an die
Ausstattung, anstatt Charaktere von innen heraus zu erfüllen.
Ein paar Ausnahmemomente gibt es.Zum Beispiel im Falle von
Pizarro, der von "Tod und Wunde" raunt, sich dabei als
Maso-Macho mit dem Messer ritzt. Wolfgang Koch, prachtvoll bei
Stimme, führt vor, dass man die Rolle eben nicht aufs Brüllen
verengen muss, sondern ihr tatsächlich Facetten geben kann. Oder
im Falle von Leonore: Anja Kampe, mit reicher Mittellage und
farbenreicher Lyrik gesegnet, muss sich zwar Höhen ertrotzen,
wirkt stimmlich nicht immer gefestigt. Doch gerade das
Ausbleiben dieser vokalen Triumphe kommt ihrer Leonore zugute.
Die zwischen Verzagen und Entschlossenheit Schwankende nimmt man
ihr ab, erst recht die zutiefst Enttäuschte an der Seite des
Mannes. Und dass Bieito im zweiten Akt seine Beobachterwarte
verlässt, sich zu seinen Figuren (endlich) hinunterbeugt,
sichert dem Abend dann doch starke Minuten. Wenn der zappelnde
Florestan, gefangen in Panik und Hospitalismus, über den Boden
geschleift wird, dann erzählt das mehr über seine Situation als
jede Blut-Schweiß-Tränen-Dosis.
Jonas Kaufmann,
der das eröffnende, überlange „Gott!" aus tiefer Stille und noch
tieferem Stimmsitz holt, liefert hier eine Rollenstudie ab, wie
man sie derzeit nicht besser bekommen kann. Markig und
imponierend in den Ausbrüchen, schier mühelos im fast
unsingbaren Schluss der Arie, nie manieriert-schattierend im
Lyrischen - neben Koch bot er die eindrücklichste
Leistung des Abends. Franz-Josef Selig als Rocco mit
Geldköfferchen und Alkoholproblem wirkt dagegen wie
unterbeschäftigt, bei Marzelline (Laura Tatulescu) und Jaquino
(Jussi Myllys) spielte das Aussehen wohl die entscheidende
Rolle.
Überhaupt die Musik. Nicht auszudenken, wäre der
„Fidelio" Daniele Gattis erstes Stück nach unterschriebenem GMD
Vertrag gewesen. Die Bayerische Staatsoper bekommt nun
bekanntlich Kirill Petrenko, muss aber zunächst diesen
Mehltau-Beethoven überstehen. Über uninspiriertes Verbuchen
kommt Gatti kaum hinaus, von der Drastik, dem himmelstürmenden
Elan der dritten Leonoren-Ouvertüre oder des Finales keine Spur.
Wo sich Gatti mal für die Musik interessiert, in
Leonores oder Florestans Arien, bräuchten die Sänger angesichts
der Zeitlupen-Tempi dringend einen dritten Lungenflügel.
Dass Bieito dem dröhnenden Finale misstraut, versteht sich.
Nicht der rettende Minister entert da die Bühne, sondern als
zynische Pointe der „Batman"-Joker (lustvoll gestaltet von
Steven Humes, geschminkt auf Heath Ledger), der mit
Platzpatronen Florestan niederstreckt. Was bleibt vom Abend?
Gewiss die Texte von Jorge Luis Borges, mit denen Bieito die
üblichen Holperworte eliminierte. Vor allem aber der
Stillstandsmoment vor dem Finale: Dieses Streichquartett-Adagio
muss „Fidelio"-Pflicht werden.