Der Skandal, den Reinhard J. Brembeck am Tag der Premiere von
Ludwig van Beethovens 'Fidelio' an der Bayerischen Staatsoper in
einem Artikel der Süddeutschen Zeitung lustvoll prophezeit hat,
ist ausgeblieben. Am Ende der Vorstellung ein paar Buh-, ein
paar Bravorufe wie meistens bei Premieren, mehr nicht. Keine
große Aufregung. Eher große Ermüdung. Calixto Bieito, der
"katalanische Skandalregisseur", wie ihn die Presse gerne nennt,
hat einen faden und flachen 'Fidelio' geliefert. Der Abend ist
ohne Spannung und Atmosphäre. Das Regie-Konzept wirkt
eindimensional und abgestanden.
Gezeigt wird ein
aufgestelltes Labyrinth aus Stahl und Plexiglas (Bühne: Rebecca
Ringst), dessen Gänge und Zellen von Leuten in grauen
Kaufhaus-Anzügen (Kostüme: Ingo Krügler) bevölkert werden.
Ausweg gibt es keinen. Das ist klar, noch bevor die ersten Töne
der Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 erklingen, die in München den Abend
musikalisch eröffnet und nicht, wie sonst üblich, den Übergang
von der Bühnenhandlung zu ihrer Apotheose markierend, vor dem
Finale des zweiten Aktes gespielt wird. Bieito dementiert den
positiven Verlauf der Oper, den dieses Vorspiel antizipiert,
gleich zweifach: Zum einen durch den einleitend von Leonore
gesprochenen Text aus Luis Borges "Labyrinth" ("Es wird nie eine
Tür geben. Du bist im Innern, das Kastell umschließt den Kosmos,
und es hat weder Rück- noch Vorderseite…"), zum anderen, weil
Florestan sich immer hektischer im Labyrinth bewegt und
schließlich gar panisch wird, wenn der Allegro-Teil der
Ouvertüre den glücklichen Ausgang der Handlung symphonisch
vorwegnimmt. Spätestens dann ist klar: Ein gutes Ende wird es
nicht geben.
Calixto Bieitos Labyrinth ist ein Ort, in
dem die Figuren der Oper allesamt physisch wie psychisch
gefangen sind. Dazu bedarf es keines tyrannischen Herrschers:
"Das eigene Gehirn kann zum Gefängnis werden", sagt Bieito, der
davon ausgeht, dass sich die Handelnden alle in eine fixe Idee
verrannt hätten, eben Gefangene ihrer Gefühle und Gedanken
seien. Echte Begegnungen kann es darum nicht geben, tiefes
Verständnis für ein Gegenüber ist unmöglich. Doch diese
Interpretation der Oper beschreibt leider auch das Verhältnis
des Regisseurs zu ihr: Auch Calixto Bieito ist ein Gefangener.
Auch er hat sich verrannt in eine fixe Idee, deren Schlüssigkeit
nur um den Preis tiefgreifender Eingriffe in Beethovens Oper zu
haben ist.
Um zu zeigen, wie unentrinnbar gefangen alle
Figuren sind und wie zweifelhaft das glückliche Ende auch aus
diesem Grund ist, ändert Bieito Beethovens Oper in zwei
entscheidenden Punkten: Die Vereinzelung und Isoliertheit der
Handelnden wird erreicht, indem die gesprochenen Dialoge des
Librettos gestrichen und durch Monologe ersetzt werden, die aus
Werken von Jorge Luis Borges ("Labyrinth") und Cormac McCarthy
entlehnt sind. Zwar taugen diese Passagen als Reflexion der
Figuren, denen sie in den Mund gelegt werden, erstaunlich gut,
aber sie stiften keinen Handlungs- und Sinnzusammenhang. So
reiht sich Musiknummer an Musiknummer, so steht eine Figur
beziehungslos neben der anderen. Natürlich wirkt dann der
hysterische Jubel des ohrenbetäubend lauten Chores
(Einstudierung: Sören Eckhoff) besonders aufgesetzt und
unglaubhaft. Um auch den letzten Zweifel an der Fragwürdigkeit
des finalen Glücks auszuräumen, wird der Gegenspieler Pizarros
(arg schablonenhaft und nicht immer sicher in der Intonation:
Wolfgang Koch) ohne viel Federlesens einfach umgedeutet: Don
Fernando (solide: Steven Humes) kommt, geschminkt wie der
Batman-Gegner Joker, aus der Proszeniumsloge und erschießt
Florestan, nachdem er Leonore das Vorrecht zuerkannt hat, ihrem
Gemahl die Ketten zu lösen. Der Getroffene stürzt zu Boden,
überlebt aber zur Verwunderung des Schützen und kann mit seinem
"holden Weib" den Jubelgesang auf die Gattenliebe anstimmen,
nachdem beide im Duett Nr. 15 ihre "namenlose Freude" stimmlich
zwar emphatisch, szenisch aber höchst beiläufig bekundet haben.
Die beiden nehmen einander kaum wahr; sie sind ganz damit
beschäftigt, sich umzukleiden. Fidelio befreit sich von der
"Busenquetsche", schlüpft in ein blaues Abendkleid und wird
wieder zu Leonore, Florestan wählt einen dunklen Dreiteiler mit
Krawatte, die sie ihm bindet. "O himmlisches Entzücken." So
rasch lassen sich freilich die Spuren der Vergangenheit nicht
tilgen: Florestan behält auch nach der Rettung autistische Züge
und kämmt sich fortwährend das Haar.
Jonas
Kaufmann ist in dieser Rolle darstellerisch wie stimmlich
überzeugend, auch wenn seine Idee, den Einsatz zur großen Arie
'Gott, welch dunkel hier' (Nr. 11) im Piano zu gestalten und
dann zum Forte anschwellen zu lassen, mehr wie die Demonstration
technischen Könnens wirkt (das überdies nicht ganz bruchlos
gelingt) und weniger wie der glaubhafte Ausdruck eines zutiefst
Verzweifelten. Mit beeindruckender Präsenz und tenoraler
Strahlkraft singt Kaufmann dann aber seine Vision von Leonore,
die ihn "zur Freiheit ins himmlischen Reich" führen möge.
Anja Kampe überzeugt ebenfalls in der Rolle der Leonore, wenn es
ihr wohl auch in der Höhe ein wenig an Geschmeidigkeit mangelt
und ihr kraftvoller Sopran mitunter zu großem Vibrato neigt.
Dass ihr großer Auftritt 'Abscheulicher! Wo eilst du hin?' (Nr.
9) die nötige Emphase vermissen ließ, lag nicht an ihr, sondern
an Daniele Gattis nichtssagender Begleitung. 'Komm, Hoffnung,
laß den letzten Stern / Der Müden nicht erbleichen' klingt bei
ihm wie ein süßes Schlummerlied mit schöner Hornbegleitung, an
das sich ein flotter Kehraus ('Ich folg der Pflicht')
anschließt.
Die Arie verliert unter Gatti völlig ihre
musikdramatische Logik. Dass der Allegro-Teil zwingend aus dem
Adagio hervorgeht, weil Leonores Besinnung auf die Hoffnung in
die Bereitschaft zu handeln umschlägt, ist nicht einmal ahnbar.
Die scharfen Akzente, die Gatti einsetzt, wirken wie bloße
Effekte und können den emotionalen Gehalt dieser Musik nicht
transportieren. Dass mit Franz-Josef Selig (Rocco), Laura
Tatulescu (Marzelline) und Jussi Myllys (Jaquino) die kleineren
Rollen alle gut besetzt waren, konnte über Gattis schwache
Leistung genauso wenig hinwegtrösten wie der "Heilige Dankchoral
eines Genesenden an die Gottheit" aus Beethovens Streichquartett
op. 132, der anstelle der Leonoren-Ouvertüre vor dem Finale von
Musikern gespielt wurde, die in Stahlkäfigen vom Bühnenhimmel
herabschwebten. Ein anrührender Moment. Retten konnte er den
szenisch wie musikalisch langweilig eindimensionalen Abend
freilich nicht.